Weihnachten verbinde ich mit Lichtern, wohin man schaut. Alle gemeinsam strahlen eine unglaubliche Wärme und Geborgenheit aus. Somit ist es nicht verwunderlich, dass Weihnachten für die meisten Menschen eine Zeit der Nähe, der Rituale und des Zusammenseins ist.
Doch für diejenigen, die von Long- bzw. Post Covid oder ME/CFS betroffen sind, bringen die Feiertage besondere Herausforderungen mit sich. Ich spreche von Reizüberflutung, Erschöpfung, soziale Erwartungen und dem Risiko eines körperlichen Crashs.
Somit stehen viele Betroffene seit ihrer Covid-Infektion vor der gleichen Frage: Wie kann ich Weihnachten so gestalten, dass ich dabei sein kann, ohne meine Gesundheit zu gefährden? Und wie können Angehörige unterstützen, ohne zusätzlichen Druck aufzubauen?
Dieser Blogartikel zeigt, warum Weihnachten für Betroffene von Long- bzw. Post Covid und ME/CFS so belastend ist, wie ein achtsamer Umgang mit der eigenen Energie möglich ist und was Familie und Freunde konkret tun können, um ein machbares, ruhigeres und verbindendes Weihnachtsfest zu ermöglichen.
Warum Weihnachten mit Long Covid und ME/CFS so schwer ist
Weihnachten ist wie ein Vergrößerungsglas im Sommer: alles wird intensiver – die Liebe, wie auch die Lücken. Mit Long Covid oder ME/CFS treffen gleich mehrere Ebenen aufeinander: körperliche Grenzen, emotionale Verletzungen und familiäre Erwartungen.
Während andere voller Vorfreude das Weihnachtsfest planen, fragst du dich vielleicht, wie du das körperlich und seelisch durchhalten oder wuppen sollst. Diese Fragen sind berechtigt. Daher gehen wir nun näher darauf ein.
Emotionale Belastung/Achterbahn: Trauer, Schuldgefühle und Einsamkeit
Es ist okay, traurig zu sein, wenn dein Körper nicht mehr das zulässt, was dein Herz sich wünscht. Viele von uns kennen das auch vom Sommer. Doch in meinen Augen ist die Trauer um das verlorene Ich an Weihnachten ein klitzekleines bisschen schmerzhafter. Warum? Weil Schuldgefühle an Weihnachten ihren Teil dazu beitragen:
- Schuldgefühle, weil du selbst nichts mehr beitragen kannst
- Schuldgefühle, weil du Einladungen absagst oder früher gehen musst
- Schuldgefühle, weil du das Gefühl hast „die Stimmung zu verderben“, weil du deine Grenzen benennst
- Schuldgefühle, weil du der Meinung bist, dass sie deinen Kampf nicht wirklich sehen und ihn ignorieren.
Studien wie die von der Charité Berlin belegen, wie stark Menschen mit ME/CFS und Long Covid Isolation erleben. Feiertage verstärken dieses Gefühl oft noch.
Körperliche Realität: Fatigue, PEM und Reizüberflutung
An Weihnachten trifft sich die Familie. Es wird laut, voll und vielleicht auch lang – also genau das, was unser Nervensystem seit unserer chronischen Erkrankung nicht mehr ertragen kann. Musik, Gespräche, Gerüche, Familienrituale und alles auf engem Raum. Das bedeutet Reizüberflutung. Und wir, die krankheitsbedingt eh meist mit Fatigue, Belastungsintoleranz und PEM leben, bemerken dieses „Zuviel“ sofort.
Unser Körper und das Gehirn sind in Dauerstress bzw. -alarm. Wir müssen filtern, unser Nervensystem regulieren. Wenn wir nicht auf uns achten, fallen wir in einen Crash: Tage oder Wochenweise.
„Durchzuziehen und später ausruhen“ ist also keine Option. Der Preis ist meinem Erachten nach zu hoch. Viel höher, als dein Umfeld ahnt.
Wenn die Familie „Normalität“ erwartet und daraus resultierende Konflikte
Villeicht kennst du Sätze wie diese: „Aber an Weihnachten kannst du doch mal ein bisschen über deinen Schatten springen?“ oder „Du wirkst in letzter Zeit ganz gesund. So schlimm, kann es doch nicht mehr sein.“
Genau diese Unsichtbarkeit der Krankheit zu Weihnachten schmerzt besonders. Die Familie sieht die gemeinsame Zeit, das Zusammensitzen am Tisch, aber nicht die schlaflosen Nächte, den Tinnitus oder die Schmerzen, weil man sich eben nicht hinlegen kann oder möchte. Sie sehen evtl. dein Lächeln, deine Beteiligung an Gesprächen, aber nicht das Zittern deiner Muskeln, wenn du das Besteck oder die Kaffeetasse in der Hand hast.
Sie lieben dich, keine Frage – aber sie verstehen nicht immer deine Krankheit.
Häufige Fragen von Betroffenen rund um Weihnachten
Soll ich zu meiner Familie fahren oder lieber zuhause bleiben?
Es gibt keine Antwort, die für alle richtig ist. Es gibt nur die, die deinem Körper und deinem Nervensystem am wenigstens schadet.
Frage dich:
- Wie lange dauert die An- und Abreise und was passiert danach mit meinem Körper?
- Gibt es vor Ort einen Raum, in den du dich zurückziehen kannst?
- Ist es möglich, kürzer zu bleiben oder vielleicht sogar nur per Video-Call dabei zu sein?
Wie sage ich Einladungen ab, ohne das Verhältnis/die Beziehung zu zerstören?
Eine gute Strategie ist, Erwartungen früh und klar zu kommunizieren, indem du z. B. sagst: „Ich freue mich sehr, Euch zu sehen. Vermutlich schaffe ich jedoch nur 1 bis 2 Stunden, danach brauche ich meine Ruhe„. Oder: „Es kann sein, dass ich spontan absagen muss, weil mein Körper an diesem Tag nicht mitmacht. Das ist dann keine Entscheidung gegen Euch, sondern für meine Gesundheit“.
Hilfreich ist in diesem Kontext evtl. auch, den Beteiligen PEM kurz zu erklären: Dass die Konsequenzen von Überlastung verzögert kommen und lange anhalten können. Dabei darfst du jederzeit deine Grenzen benennen, ohne dich zu entschuldigen.
Wie kann ich mitfeiern, wenn ich bettlägerig bin?
Weihnachten muss nicht groß sein, sondern bedeutsam. Schaffe dir eine eigenen kleine Weihnachtswelt, indem du
- am Bettrahmen und/ober über deinem Bett Lichterketten anbringst
- einen Weihnachtsduft (Zimt, Orange, Vanille) mit niedriger Intensität im Zimmer verströmst
- ihr Euch gemeinsam für eine bestimmte Zeit an deinem Bett versammelt, Geschichten erzählt, dir Lieder vorgesungen werden oder welche abgespielt werden, Weihnachtsgebäck nascht und Spaß zusammen habt. Danach ruhst du dich wieder aus.
Praktische Strategien: Weihnachen an deine Energie anpassen
Planung und Pacing: Mikro-Schritte statt Weihnachts-Marathon
Wenn ich an Weihnachten zu meiner Familie fahre, plane ich nicht nur das Weihnachtsessen mit ihr, sondern jeden einzelnen Schritt, der dazugehört:
- 25 Minunten Autofahrt = 1 Energieeinheit
- 2 Stunden Familienzeit = 5 Energieeinheiten
- Reizüberflutung (Gespräche, Gerüche, Licht, Musik) = 4 Energieienheiten
- Rückfahrt und Regernation zu Hause = 4 Energieeinheiten
Das sind 14 verbrauchte Energie- oder Löffeleinheiten nach der Spoontheory. An einem guten Tag habe ich im Regelfall 10.
Reizreduktion: Leise, dunkler, kürzer – aber trotzdem festlich weihnachtlich
Weihnachten muss nicht laut oder grell sein, um schön zu sein. Diese kleinen Anpassungen machen einen Unterschied:
Licht:
- gedimmte Lampen, sanfte Weihnachtsbeleuchtung statt grelles Deckenlicht
- Warmes Kerzenlicht statt blinkende Lichterkette
- falls nötig: Sonnenbrille (auch drinnen und ja, das ist okay)
Geräusche:
- Musik leiser oder ganz aus
- Einzelgespräche statt großes Durcheinander
- Noise-Cancelling-Kopfhörer als Notfall-Option
Plan B und C: Spontane Absagen einplanen, ohne Drama
Das Schwierigste an meiner Krankheit ist die Unvorhersehbarkeit. Heute geht es ganz gut, morgen gar nicht.
Plan B: Ich komme zur Bescherung und gehe ziemlich gleich im Anschluss
Plan C: Ich bin per Video-Call dabei
Alternative Weihnachtsrituale für Long Covid und ME/CFS-Betroffene
Vielleicht ist der wichtigste Schritt, Weihnachten neu zu definieren. Nicht als Notlösung, sondern als ganz neues Ritual und bewusste Neugestaltung. Und auch wenn es sich für alle Beteiligten seltsam anfühlt, ist es vielleicht genau das, was es dir ermöglicht, dabei zu sein.
Was du anpassen kannst:
- das Fest früher beginnen (12 Uhr statt 15 Uhr)
- früher beenden (15 Uhr statt 19 Uhr)
- einzelne Programmpunkte kürzen (Bescherung 15 bis 20 Minuten statt 60)
- Sitzplatz mit Rückenlehne, nah an der Tür, weit weg von der Heizung
- Option auf ruhigen Rückzugsort
- Musik, Gespräche und/oder Licht reduzieren
- es redet immer nur einer in dem Raum, in dem du dich aufhältst – nicht alle durcheinander
Alternativ gibt es noch diese Möglichkeiten:
- Zeitfenster-Feiern: 30 bis 60 Minunten-Besuch statt ein ganzer Nachmittag
- Synchrones Feiern aus der Ferne: Deine Familie feiert vor Ort und du bist über einen kurzen Video-Call, Fotos oder Sprachnachrichten dabei. Aber nur so lange es geht. Mach dir keinen Druck, dabeizubleiben.
- Rituale im Kleinen: Jedes Jahr immer zur gleichen Zeit ein bestimmtes Getränk oder Gebäck, ein Duft, ein Lied, eine Kerze, eine Weihnachtsanimation oder ein Film/eine Serie
Weihnachten allein mit Long Covid oder ME/CFS: Umgang mit der Einsamkeit
Manche von uns sind an Weihnachten allein. Nicht, weil sie es unbedingt wollen, sondern weil ihnen ihr Körper keine andere Alternative bietet. Und ja, das tut weh.
Es ist somit okay, an Weihnachten traurig zu sein. Es ist in Ordnung zu weinen, weil dir verwehrt wird, mit anderen zusammen zu sein. Und es ist mehr als okay, wütend auf deinen Körper zu sein, der dir diese Teilhabe verweigert.
Versuche an diesen Tagen, mit Struktur deinen Emotionen gegenzuwirken. Schäme dich nicht dafür. Zieh etwas an, in dem du dich wohlfühlst, dass sich aber von den anderen „normalen“ Tagen abhebt (also nicht den Schlafanzug oder dergleichen). Setz dich zum Essen an den Tisch. Zünde eine Kerze an. Poste in deiner Selbsthilfegruppe bzw. in deiner Long Covid oder ME/CFS-Community, wer noch alleine ist.
Weihnachten neu definieren
Weihnachten muss nicht sein oder aussehen wie früher, um wertvoll zu sein. Weihnachten ist kein Fest, dass du überstehen musst. Es ist ein Rahmen, den du neu anpassen darfst, damit du nicht untergehst. Nimm dir daher nicht vor „es irgendwie zu schaffen“, sondern sage ehrlich „So geht es nicht, aber wenn wir xy ändern vielleicht“.
Nähe entsteht nicht durch Dauer, sondern durch Verbundenheit, Entgegenkommen und Achtsamkeit.
Über die Autorin
Ich bin Severine Tanja Rein und lebe seit April 2021 mit der Diagnose Post-/Long Covid und ME/CFS.
Auf meinem Blog atemdenkschaltwerk teile ich meine Gedanken, Erfahrungen, Strategien und inneren Prozesse aus meinem Alltag mit chronischer Krankheit. Mein Ziel dabei ist, chronische und unsichtbare Krankheiten sichtbarer zu machen. Denn wir sind mehr als unsere Symptome. Unsere Geschichten verdienen es, gehört zu werden.
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