Warum Pacing für Long-/Post Covid- und ME/CFS-Betroffene so wichtig ist

Für viele Menschen, die von Long-/Post Covid oder ME/CFS betroffen sind, ist der Alltag ein Kraftakt und mit einem Tanz auf einem Drahtseil gleichzusetzen.

Die ständige Erschöpfung, die Angst vor einem evtl. Rückfall sowie die Unvorhersehbarkeit der Auswirkungen der Symptome, machen selbst die einfachsten Aktivitäten zu einer Herausforderung. Doch es gibt eine Strategie, die hilft, diesen Kreislauf zu durchbrechen: das Pacing.

Was ist Pacing?

Vereinfacht und auf den Punkt gebracht bedeutet Pacing, bewusst und achtsam mit der am Tag zur Verfügung stehenden Energie umzugehen.

Pacing zielt somit darauf ab, die vorhandene Energie sinnvoll einzusetzen. Dabei geht es nicht nur darum, auf sich zu achten und Pausen zwischen den verschiedenen Aktivitäten zu machen, sondern vor allem sich seiner eigenen – noch zur Verfügung stehenden – Energiereserven bewusst zu werden. Die beiden inneren Antreiber, Ruhe und Aktivität, sollen sich nicht bekämpfen, sondern uns „harmonisch“ und ausgeglichen durch den Alltag begleiten.

Das bedeutet für uns Betroffene: Lernen, die eigenen Grenzen zu erkennen und die täglichen Aktivitäten so zu planen, dass Rückfälle (Crashs) vermieden werden.

Warum ist Pacing so wichtig?

Pacing hilft uns dabei:

  • den Gesundheitszustand einigermaßen stabil zu halten
  • die Lebensqualität etwas zu steigern
  • unser Körperbewusstsein zu fördern bzw. zu verbessern
  • mit Emotionen besser umzugehen, indem wir sie wahrnehmen und anerkennen
  • das Vertrauen in uns zu stärken
  • einen Crash durch Überanstrengung zu vermeiden

Wie bereits erwähnt, sind die Energiereserven von Long-/Post Covid-, wie auch der von ME/CFS-Betroffenen, sehr begrenzt. An guten Tagen versuchen wir „normal“ zu leben, am Alltag teilzunehmen und mitzuwirken, indem wir z. B. die Wäsche waschen, den Frühstückstisch herrichten oder die Kinder in den Kindergarten bringen. Die schlechten Tage sind die, an denen wir zur Unfähigkeit verbannt sind und symptombedingt im Bett oder auf dem Sofa liegen. Selbst die kleinste Belastung, wie das Aufrichten oder das Heben/Drehen des Kopfes, sind in diesen Phasen viel zu anstrengend. An den Tagen reicht uns selbst für diese „Kleinigkeit“ die Kraft nicht aus.

Damit wir nicht mit PEM konfrontiert werden, unterstützt uns das Pacing dabei, unter unserer Belastungsgrenze zu bleiben und verhindert somit eine Verschlechterung unseres Gesundheitszustandes bzw. der Symptome.

Für den sehr großen Personenkreis von Schwer- und Schwerstbetroffenen, ist es leider oft nicht möglich, einer PEM mittels Pacing vorzubeugen. Bereits die Anwesenheit einer weiteren Person im selben Zimmer oder die Nahrungsaufnahme an sich, kann für sie ein Auslöser für PEM sein.

Pacing ist ein Prozess

Pacing zu erlernen, ist ein langwieriger Prozess. Es reicht nicht aus, nur mit den Fingern zu schnippen und zu sagen, morgen setze ich das Pacing um. Wir müssen zuerst erkennen, wo unsere Grenzen liegen. Wenn uns das bewusst ist, müssen wir vor dieser Grenze die Reißleine ziehen. Nur so, können wir ein Auf und Ab an Tagesverläufen vermeiden und einer Symptomparty entgegenwirken. Das Pacing gibt uns die Kontrolle zurück, wieder selbst einen Alltag zu gestalten, Arzttermine oder dergleichen wahrzunehmen und Rückschläge im besten Fall zu vermeiden.

Du denkst, das hört sich doch easy an und ist leicht umzusetzen? Nein, ist es nicht. Es gehört sehr viel Selbstdisziplin zur Umsetzung des Pacing. Zum einen bedeutet das große persönliche Einschränkungen, bei allem, was der Seele guttut, wie z. B. dem Führen eines Telefonates, einem (Wald)Spaziergang oder dem Spüren der Sonnenstrahlen im Garten. Zum anderen ist der Großteil von uns Menschen nun mal darauf gepolt, den privaten und beruflichen Ansprüchen und Erwartungen gerecht zu werden. Uns Menschen fällt es zwischenzeitlich schwer, unter unserer Belastungsgrenze zu bleiben. Entweder haben wir es erst gar nicht gelernt oder – was wahrscheinlicher ist – leider sogar verlernt.

Wie funktioniert Pacing im Alltag?

Mache dir, deinen Angehörigen und Freunden, deine Energiereserven mittels einer greif- und nachvollziehbaren Sprache bewusst. Nutze dazu eines der beiden Beispiele:

  1. Löffel-Theorie1

Stell dir vor, dass du jeden Tag eine begrenzte Anzahl von 10 bis 12 Löffeln zur Verfügung hast, die deine Energie widerspiegeln. Jede Aktivität – egal ob aufstehen, Zähne putzen, Treppen laufen, kochen oder aktiv zuhören -, kostet dich eine bestimme Anzahl an diesen Löffeln. Nimm dir nun für jede dieser Aktivitäten die Anzahl der Löffel weg, die es dich Energie verbraucht. Das Ziel hierbei ist, den Tag so zu gestalten, dass du deine Energie bewusst einsetzt und – wenn möglich – nie alle Löffel für den Tag aufbrauchst.

  1. Vergleiche deinen Energiehaushalt mit einer Batterie

Wenn wir uns eine Batterie vor unserem geistigen Auge vorstellen, ist diese im Regelfall immer voll aufgeladen und jederzeit griff- und einsatzbereit. Nun gehen wir davon aus, dass diese Batterie eine wiederaufladbare Akku-Batterie ist. Das Ladegerät funktioniert und wir wissen, dass wir bei einer Entladung der Batterie darauf zurückgreifen können.

Diese Akku-Batterie steht nun stellvertretend für das Energielevel von uns Betroffenen. Jedoch ist es bei uns Betroffenen von Long-/Post Covid und ME/CFS so, dass wir bereits mit einer geringeren Prozentzahl als 100 % in den Tag starten und sich diese Batterie somit von Beginn an nicht mehr vollständig auflädt. Die Akku-Batterie kommt einfach nicht an ihre ursprünglichen Kapazität. Die Nutzungszeit der Batterie verkürzt sich. Ein Ladezyklus wird immer schneller eingefordert. Die Akku-Kapazität der Batterie nimmt immer weiter ab und trotzdem halten wir an dieser Batterie fest – wir haben keinen Ersatz.

Zu einem bestimmten Zeitpunkt bringt die Akku-Batterie nur noch eine Kapazität von 20 %. Du bist jedoch froh darum, denn immerhin kannst du sie nach wie vor einsetzen und sie lässt sich noch ein klein wenig aufladen. Und so geht das weiter, bis die Batterie letztlich zusammenbricht und nicht mehr einsatzfähig ist.

Verglichen mit uns Betroffenen, beginnen wir den Tag mit einem Energielevel von ungefähr 20 bis 30 % anstatt der vollen 100 % Batterie-Kapazität. Der körperliche und geistige Einsatz ist somit von kurzer Dauer, bevor wir wieder zum „aufladen“ müssen. Der Zusammenbruch der Batterie ist mit der Situation gleichzusetzen, in der wir „crashen“ und absolut nichts mehr möglich ist. Diese Situation wollen wir mit dem Pacing verhindern.

Überwache deine Aktivitäten und die ggf. daraus resultierenden Symptome

In einem meiner vorherigen Blogartikel habe ich bereits auf das Symptomtagebuch hingewiesen. Mithilfe dieses Tagebuchs, wird uns aufgezeigt, welche Aktivitäten Energie kosten und wie sie sich für uns auswirken. Apps oder Smartwatches tragen ebenfalls zur Aktivitätsüberwachung bei, indem wir z. B. auf die Herzfrequenz beim Ausführen von Tätigkeiten achten.

Priorisiere und strukturiere den Tag

Den Tag in kleine und überschaubare Einheiten aufzuteilen, ist ebenfalls hilfreich. Statt beispielsweise den Tisch auf einmal abzuräumen, teilen wir diese Aufgabe in kleinere Teilschritte ein. Des Weiteren ist es sinnvoll, sich zu hinterfragen, welche Aktivitäten wirklich notwendig sind. Muss ich z. B. wirklich heute die Wäsche zusammenlegen oder geht das nicht auch morgen? Kann eine Tätigkeit wie das Einkaufen evtl. von jemand anderes aus dem Haushalt oder dem näheren Umfeld übernommen werden? Das Ziel sollte sein, Aufgaben zu priorisieren und regelmäßig Pausen einzuplanen – auch, wenn man sich gerade wohl und fit fühlt.

Wenn du weißt, dass ein Termin ansteht, der Zeit erfordert (wie beispielsweise bei einem Arzt), plane deinen Tag so, dass es Platz für weitere Pausen gibt, die du davor oder danach einhalten kannst

Selbstreflexion

Ist dir evtl. in den Ruhephasen langweilig und du scrollst durch Instagram oder andere sozialen Medien? Läuft in der Zeit der Fernseher oder ein Podcast? Beobachte dich und fühle in dich hinein. Kommst du mit den Reizen, die da auf dich einfließen, klar und kannst du dabei entspannen bzw. wirklich zur Ruhe kommen? Wenn ja, ist alles okay. Falls nicht, versuche diese „anregenden“ und unter Umständen energieverbrauchende Aktivitäten in den Ruhephasen zu vermeiden.

Buchtipp: Sehr viel weitere hilfreiche Anregungen und Strategien inkl. Online-Material, erhältst du in dem Pacing-Selbsthilfebuch „Long Covid und Chronisches Erschöpfungssyndrom lindern“ von Andrea Brackmann und Katharina Jänicke. Dieses Buch ist (m)eine absolute Empfehlung zu diesem Thema. Die beide Autorinnen geben einem in diesem Buch ganz tolle Übungen an die Hand.

Buchtipp: Long Covid und Chronisches Erschöpfungssyndrom lindern von Andrea Brackmann und Katharina Jänicke. Alternativ zum Buch gibt es auch das Hörbuch dazu.

Wie können uns Angehörige und Freude unterstützen?

Für viele Betroffene ist es schwierig, ihr Umfeld in Bezug auf die Selbstfürsorge für das Thema Pacing zu sensibilisieren. Denn es ist nicht einfach, sich immer und immer wieder erklären zu müssen, warum wir uns jetzt schon wieder ausruhen. Ein Gespräch über die Bedeutung des Pacing und evtl. auch ein bildlicher Vergleich mittels der Löffel-Theorie bzw. dem Vergleich des Energiehaushalts mit einer Akku-Batterie, kann für Akzeptanz sorgen und Missverständnisse vermeiden.

Angehörige und Freunde können uns eine große Hilfe sein, indem sie:

  • Verständnis aufbringen, falls wir Pläne kurzfristig ändern oder absagen
  • Geduld zeigen, da wir vielleicht langsamer agieren und/oder während Gesprächen oder Laufstrecken oft Pausen einlegen
  • Hilfe anbieten, z. B. bei Fahrten zu Ärzten oder Therapeuten wie auch für Besorgungen
  • aufmerksam zuhören, wenn wir über unser Innerstes, dem Leben mit der Erkrankung wie auch den neu hinzugekommenen familiären Herausforderungen sprechen
  • uns ermutigen Pausen einzuhalten bzw. uns daran erinnern
  • uns nicht vergessen
  • weiterhin an uns glauben
  • das Vertrauen in unsere (partner- bzw. freundschaftliche) Beziehung nicht verlieren
  • den Kontakt aufrechterhalten und Einladungen aussprechen, obwohl sie wissen, dass wir diese vermutlich nicht annehmen werden bzw. realisieren können
  • gemeinsame Aktivitäten an unsere Bedürfnisse anpassen
  • sich selbst Wissen über Long-/Post Covid, ME/CFS und das Pacing aneignen

Fazit

Pacing ist meiner Meinung nach der Schlüssel zu mehr Lebensqualität. Es ist die einzige unserer zur Verfügung stehenden Methode, die hilft, den Alltag um ein Vielfaches besser zu bewältigen. Achtsam mit der eigenen Energie umzugehen, Aktivitäten so zu planen und auszuführen, dass Körper und Geist nicht überfordert werden, sollte unser Ziel sein.

Pacing bedeutet aber auch, sich in Geduld zu üben und flexibel auf Tagesereignisse zu reagieren. Selbstliebe und Selbstfürsorge sollten nicht nur zwei Schlagwörter sein, die wir in Verbindung mit unserer Erkrankung und Achtsamkeit irgendwo gelesen oder gehört haben. Es sind zwei Wörter, die es wert sind, sich ihnen zuzuwenden. Indem wir der Definition der beiden Wörter Raum geben und sie wirken lassen, gehen wir einen weiteren Schritt Richtung Akzeptanz und Umgang mit der Erkrankung.

Ein ganz großes Stück leichter wird unser Leben, wenn uns Angehörige und Freunde zusätzlich unterstützen und Verständnis für die Situation aufbringen.

Wenn du selbst von Long-/Post Covid oder ME/CFS betroffen bist: Berichte gerne von deinen Erfahrungen im Umgang mit Pacing. Solltest du noch weitere Tipps für Angehörige und Freunde haben, fühle dich eingeladen, diese in den Kommentaren zu vermerken.


1 Entwickelt von der US-Bloggerin Christine Miserandino, die mithilfe dieser Theorie versuchte, ihrer Freundin ihren Alltag mit einer chronischen Immunkrankheit zu erklären (Quelle: AOK)

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