Können Menschen mit Long Covid und ME/CFS noch an Hochzeiten, Geburtstagen und anderen Feiern teilhaben? Diese Frage beschäftigt Millionen Betroffene des Long- bzw. Post Covid-Syndroms, der Myalgischen Enzephalomyelitis (kurz: ME) sowie des chronischen Fatigue-Syndroms (Abkürzung: CFS) weltweit. Die spontane Antwort lautet oft: „Nein. Zu anstrengend, zu riskant bzgl. eines evtl. Rückschlages.“
Aber stimmt das wirklich? Meine Erfahrung bei der Hochzeit meiner Schwester zeigt: Feiern mit chronischer und unsichtbarer Erkrankung ist möglich, sofern im Vorfeld bestimmte Rahmenbedingungen geschaffen werden.
In diesem Blogartikel, nehme ich dich mit und zeige dir, wie aus einer zunächst unmöglich erscheinenden Situation ein wunderschöner gemeinsamer Tag wurde.
Long Covid, ME/CFS und Feiern: Warum „normale“ Veranstaltungen unmöglich erscheinen
Als meine Schwester mir eröffnete, dass sie heiraten würde, war meine Freude riesig. Natürlich wollte ich dabei sein! Aber bereits während des Gesprächs, begann es in meinem Kopf zu rattern und ich wurde von Trauer und Zweifel erfasst. Der Grund hierfür war, dass ich mir schon während des Erzählens Gedanken darüber machte, ob ich überhaupt dabei sein kann. Ich und ein Fest? Meine gesicherte „Homebase“ seit meiner Covid-Infektion hierfür verlassen? Ich schaff‘ es ja manchmal kaum zu den Therapien. Mit Long Covid und ME/CFS an einer Feier oder Veranstaltung mit mehreren Personen teilzunehmen, bedeutet eine enorme Herausforderung.
Viele Gäste, Lärm, laute Musik, lange Anfahrt – all das sind Faktoren, die Menschen wie mich schnell überfordern. Schon kleine Anlässe können Tage oder Wochen der Erschöpfung nach sich ziehen.
Nach kurzem Zögern, teilte ich dem Brautpaar in spe meine Bedenken bzgl. meiner Teilnahme mit. Daraufhin war es erst mal still. Sie mussten über meine Aussage nachdenken. Aber meine Schwester und ihr Mann haben eine wunderbare Lösung gefunden.
Gemeinsam mit Krankheit neue Wege gehen: gemütlich, intensiv und im kleinen Kreis
Long Covid und ME/CFS sind Erkrankungen, die den Alltag gravierend einschränken. Schon kleinste Aktivitäten können schnelle Erschöpfung und langanhaltende Symptome mit unbekanntem Ausmaß auslösen. Deshalb sind für Betroffene Feiern mit vielen Gästen oder generell eine Ansammlung von Menschen, lautem Trubel, vielen Reizen und langen Zeiten meistens nicht möglich und wenn doch, dann sind sie sehr belastend.
Dennoch war es dem Brautpaar wichtig, zumindest in einem bestimmten Rahmen, gemeinsam die Hochzeit zu feiern. Anstatt zu erwarten, dass ich über meine Grenzen gehe, verlegten sie die standesamtliche Trauung in meinen Ort. Das machte die Situation für mich deutlich entspannter, da die Belastung durch eine Anreise wegfiel.
So feierten wir im ganz kleinen Kreis: nur unsere Eltern, mein Mann, ich und der Sohn der beiden. Die Atmosphäre war wunderschön. Aufgrund der geringen Teilnehmeranzahl, wurde die Trauung in einem Kaminzimmer eines historischen Gebäudes durchgeführt. Sichtbalken, ein offener heller Raum und Aussicht auf die Schwäbische Alb – einfach traumhaft schön.
Ruhephasen als wichtiger Teil des Tages
Ein zentraler Punkt war die eingeplante Erholungsphase: Zwischen der Trauung und dem späteren gemeinsamen Fest- bzw. Abendessen blieben etwa drei Stunden, die ich für mich nutzen konnte. Diese Pause zum Ausruhen, Hinlegen, ans Beatmungsgerät gehen und neue Energie auftanken war für mein Wohlbefinden entscheidend.
Was bedeutet „Energie auftanken“ konkret?
- Vollständige Ruhe in einem abgedunkelten, ruhigen Raum
- Keine Gespräche
- keine Entscheidungen treffen müssen
- Bewusst entspannen und das Nervensystem herunterfahren
- medizinische Vorsorge treffen (bei mir: Tabletten einnehmen und ans Beatmungsgerät gehen)
Ohne diese Punkte, hätte ich den Tag nicht durchstehen können. Für Betroffene von Long Covid und ME/CFS sind solche Auszeiten unverzichtbar, um Überforderung und Rückschläge zu vermeiden.
Die Feier – angepasst, an meine chronische und unsichtbare Krankheit
Das gemeinsame Abendessen war ebenfalls eine bewusste Entscheidung von mir, um den Tag mit der Familie im kleinen Kreis ausklingen zu lassen. Das Festessen fand in dem Hotel und Restaurant statt, in dem das Brautpaar übernachtete. Perfekt für mich.
Im Vorfeld hatte meiner Schwester bereits bei der Reservierung um einen Tisch gebeten, der nicht offen und mitten im Trubel stand, sondern eher etwas abseits mit der Möglichkeit, das Fenster zu öffnen.
Das funktionierte anfangs auch gut. Jedoch kam es gegen gegen 18:30 Uhr / 19 Uhr zu einem immensen Auflauf der Hotelgäste, die alle zur gleichen Zeit ihr Abendessen einnehmen wollten. Das war mir dann doch zuviel: Laute Stimmen, Hektik, Unruhe und Hitze schlugen mit verstärkter Übelkeit, Zittern und totaler Reizüberflutung zu. Die Panikattacke war greifbar. Frische Luft half nicht. Meine gelernten Übungen bzgl. der Regulierung des Nervensystems ebenso wenig.
Bei Überforderung: Selbstfürsoge ohne schlechtes Gewissen betreiben
In dieser – für mich schlechten Situation – wurde es mir ermöglicht, mich im Zimmer meiner Schwester und ihres Mannes für etwas mehr als eine Stunde hinzuliegen. Somit hatte ich Ruhe und etwas Zeit, um die Beschwerden in den Griff zu bekommen, mein Nervensystem runterzufahren und mich zu beruhigen. Als sie anschließend nach mir sah und mich zum Dessert abholte, war der Ansturm vorbei. Insgesamt war es wieder etwas ruhiger und die Hitze, ausgelöst durch die Personen und das Essen, war zumindest für die Dauer des leckeren Nachtisches noch aushaltbar.
Danach ging es für mich und meinen Mann direkt nach Hause. Die nächsten 4 Tage verbrachte ich im Bett, kaum fähig, aufzustehen. Aber ich war glücklich, dabei gewesen zu sein.
In zwei Wochen wird das größere Hochzeitsfest mit weiteren Freunden und Verwandten gefeiert. Dieses Mal jedoch ohne mich. Dort machen die beiden „ihre Party“. Somit haben wir gemeinsam eine Lösung gefunden, die für alle passt.
Das zeigt, wie wichtig es ist, eigene Grenzen zu setzen und diese zu kommunizieren.
Druck, Trauer, Schuld und Dankbarkeit: Die psychischen Herausforderung beim Feiern mit Long Covid & ME/CFS
Was ich bisher noch nicht erwähnt habe: Die ganze Situation war natürlich auch emotional herausfordernd. Da ist die Trauer über all die verpassten Feiern, Familienfeste und spontanen Zusammenkünfte. Das Schuldgefühl, weil man „wieder mal“ Umstände macht. Die Sorge, dass die Familie sich irgendwann nicht mehr die Mühe macht.
Umso dankbarer war ich für die Kreativität und Rücksichtnahme meiner Schwester und ihrem Mann. Beide haben mir gezeigt, dass Menschen mit chronischen Erkrankungen es wert sind, dass man sich Gedanken macht. Wir sind nicht „zu kompliziert“, wir brauchen nur andere Lösungen.
Und natürlich war da auch große Freude darüber, bei solch einem wichtigen Ereignis dabei zu sein.
Feste und Feiern meistern – Praktische Tipps und Strategien für Menschen mit chronischer Krankeit
Auch mit Long Covid und (leichter bis moderater) ME/CFS ist es möglich, an besonderen Momenten teilzuhaben – wenn Rücksicht, Selbstfürsorge und gute Planung im Vordergrund stehen.
Diese Punkte haben mir/uns geholfen:
- Kommunikation: Offen über die Erkrankung und deren Symptome sprechen, evtl. Erwartungen anpassen.
- Flexibilität: Offene Planung und spontane Absagen sind erlaubt.
- Unterstützung: Familie und Freunde einbinden, die dich unter Umständen nach Hause fahren können und dich vor Ort unterstützen.
- Kleine Runde statt große Party: Wenige Gäste, dafür intensive Momente.
- Energiemanagement beachten: 7 bis 10 Tage vor der Feier schonen und nur die notwendigsten Termine wahrnehmen
- Pausen einplanen: Die Ruhezeit zwischen Trauung und Essen war entscheidend.
- Ruhige Umgebung: abgeschirmter Essbereich; Möglichkeit, ein Fenster zu öffnen und ein gedimmtes Licht helfen, Reizüberflutung zu vermeiden
- Rush-hour bzgl. Essenzeit vermeiden: geringerer Geräuschpegel und weniger Hitzeentwicklung aufgrund der Menschenansammlung und deren Essen
- Rückzugsort bei der Veranstaltung: Ein Ort zum Hinlegen und Zurückzuziehen machte den Unterschied.
- Bei Überforderung sofort reagieren, nicht „durchhalten“
- Geteilte Feste: Nicht immer möglich, ich weiß. Aber falls doch ➡️Erst der kleine Kreis mit mir, später die große Feier für alle anderen.
- Erinnerungen schaffen: Fotos oder Videos halten den Moment fest, auch wenn du gegebenfalls nicht sein kannst oder das Fest frühzeitig verlassen musst.
Häufige Fragen rund ums Feiern mit Long Covid und ME/CFS
Kann man mit Long Covid überhaupt feiern?
Das kommt auf deinen Allgemeinzustand am Tag x an. Wichtig sind frühzeitige Planung, Energiemanagement und flexible Lösungen. Feiern im kleinen Rahmen mit Pausen und Rückzugsmöglichkeiten sind oft zu organisieren und somit machbar.
Wie lange können Betroffene an einer Feier teilnehmen?
Das ist sehr individuell und ebenfalls tagesabhängig. Manche schaffen evtl. nur eine Stunde, andere mit Pausen mehrere Abschnitte wie hier z. B. die Trauung und das gemeinsame Essen. Der Schlüssel liegt im kontinuierlichen Monitoring der eigenen Energielevel.
Wie können Angehörige Rücksicht nehmen?
Indem sie flexibel bleiben, sich mit dir absprechen und alternative Lösungen finden. Des Weiteren sollen sie es nicht persönlich nehmen, wenn du kurzfristig absagst oder früher gehst.
Wie erkläre ich eventuellen weiteren Gästen meine Erkrankung und Bedürfnisse?
Sei offen und ehrlich, kurz und sachlich: „Ich habe eine chronische Erkrankung, die meine Energie stark einschränkt. Deshalb brauche ich meine Pausen oder muss früher gehen. Das ist medizinisch notwendig, nicht unhöflich.“ So entsteht im besten Fall Verständnis und Rücksichtnahme.
Wie kann ich mich auf ein größeres Fest vorbereiten?
Setze Grenzen, plane Erholungsphasen vor und nach der Veranstaltung und informiere deine Gastgeber nochmals über deine Situation, sofern sie dies vor Freude auf ihr eigenes Fest vergessen. Vielleicht kannst du nur zeitweise teilnehmen oder das Fest in kleinere, überschaubare Abschnitte unterteilen.
Was mache ich, wenn ich mich spontan überfordert fühle?
Plane gemeinsam mit den Verantwortlichen der Feier Rückzugsorte ein und informiere dein Umfeld vorab, dass du ohne große Erklärung oder gar Diskussion eine Pause machen wirst und den Raum verlässt. Spontane Absagen sind in Ordnung und wichtig für deine Gesundheit.
Wie gehe ich mit Schuldgefühlen um? Deine Gesundheit ist wichtig. Du machst keine „Umstände“, sondern hast einfach andere Bedürfnisse.
Was ist das Wichtigste bei Feiern mit Long Covid und ME/CFS?
Das Akzeptieren von Grenzen. Niemand sollte gedrängt werden, über seine Kräfte zu gehen.
Fazit: Feste feiern geht auch mit chronischen und unsichtbaren Krankheiten, wenn man sich austauscht
Die Hochzeit meiner Schwester hat mir gezeigt, dass es trotz Long Covid und ME/CFS möglich ist, an wichtigen Lebensereignissen teilzuhaben. Der Schlüssel liegt in offener Kommunikation, Rücksichtnahme und Kreativität.
Es geht darum, neue Wege zu finden, die für alle passen. Kompromisse sind keine Niederlagen, sondern intelligente Lösungen. So können auch Menschen mit chronischen Erkrankungen Teil von besonderen Momenten bleiben und Teilhabe leben, denn davon gibt es – zumindest in meiner Welt – eh zu wenig.
Hast du schon ähnliche Erfahrungen gemacht? Welche kreativen Lösungen habt ihr in eurer Familie gefunden? Lass es mich gerne in den Kommentaren wissen. Ich freue mich auf den Austausch!
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Das ist wirklich toll, dass du bei der Trauung dabei sein konntest und dass deine Schwester und ihr Männe da bei der Planung an dich gedacht haben! Das zeigt, wie wichtig es ihnen war, dich miteinzubeziehen und wie sehr du ihnen am Herzen liegst. Mega, das freut mich sehr für dich. <3
Meine Erkrankung ist zwar eine andere, das Problem mit den begrenzten Energiereserven (in weniger drastischem Ausmaß als bei dir) habe ich aber auch. Da bin ich meiner besten Freundin und ihrer Familie, mit denen ich ja in der WG zusammenlebe, sehr dankbar, dass wir da auch Lösungen finden, die für die anderen manchmal etwas mehr Aufwand bedeuten. Beispielsweise wenn sie mich von einer Veranstaltung mit dem Auto abholen, weil längere Strecken selberfahren oder mit den Öffentlichen zu reisen mich zu viele Energiekörner kosten würde, sodass nichts mehr für die Veranstaltung übrig ist. Bisweilen fällt es mir noch schwer, das anzunehmen. Aber umgekehrt würde ich das ohne zu zögern ja auch von Herzen gern für sie tun – dieser Perspektivenwechsel im Kopf macht es mir etwas leichter.
Liebe Grüße
Anne
Hallo Anne,
ja, meiner Schwester und ihrem Mann bin ich wirklich von Herzen dankbar dafür, dass sie mir ermöglicht haben, an ihrer Hochzeit teilzunehmen. Diese „dabei sein“ tat mir (rückblickend) so gut und zahlte parallel dazu unendlich viel auf mein Herzens- bzw. Seelenkonto ein – das ist unbeschreiblich 🫶.
Und wie du auch schreibst, sind es genau diese gemeinsamen Überlegungen und auch Unterstützungen, die uns trotz unserer jeweiligen Krankheit, Teilhabe ermöglichen. Ich finde es super, dass dir das ermöglicht wird!
Wiederum kann ich jedoch verstehen, dass du haderst, diese Hilfe anzunehmen. Vielleicht müssen wir da einen unserer Glaubenssätze loslassen und ihn ins Positive umwandeln. Also beispielsweise anstatt: „Ich kann doch nicht …(Hilfe annehmen oder ähnliches)“ ein „Es ist schön, dass mir jemand die Hand reicht und … (mir ermöglicht, dass…)“. Denn wie du sagst, würdest du ohne zu zögern, dieser anderen Person auch deine Hand reichen. Hier zählt die Tat bzw. die Handlung und die läuft auf ein „Miteinander. Füreinander.“ raus. Und eigentlich gibt es doch nichts Schöneres im gemeinsamen Umgang.
Ich wünsche dir noch ganz viel solcher besonderen Momente in dieser tollen Gemeinschaft.
Liebe Grüße
Sevi