Wenn Social Media zur Belastung wird: Reizüberflutung bei Long Covid & ME/CFS

Eine Frau hält kraftlos ein Smartphone in der rechten Hand, auf dessen Bildschirm Benachrichtigungen von Facebook, Instagram, Threads und Pinterest angezeigt werden. Die Hand liegt müde auf einer weichen Decke – ein Symbol für Überforderung durch soziale Medien bei Long Covid und ME/CFS.

Social Media kann bei Long Covid und ME/CFS schnell zur Belastung werden. Oft lange, bevor wir es selbst bemerken. Reizüberflutung, Erschöpfung, Konzentrationsabfall: All das tritt plötzlich und scheinbar grundlos auf und fühlt sich an, als würde der Körper „aus dem Nichts“ dichtmachen.

In diesem Artikel erkläre ich, warum das passiert, wie Social Media unser ohnehin geschwächtes Nervensystem zusätzlich fordert und was dir helfen kann, achtsamer damit umzugehen.

Seit knapp zwei Wochen bin ich in den sozialen Medien nicht mehr aktiv. Und das, obwohl es meine Welt nach draußen ist. Der Ort, an dem ich mich mit anderen Betroffenen austausche. Wo ich auf Menschen treffe, die verstehen, wie es ist, mit Long Covid und ME/CFS zu leben.

Doch gerade fühle ich mich in der Social Media-Welt einfach nicht wohl. Ich scrolle durch Instagram und nach fünf Minuten ist mein Kopf voll und wie in Watte gepackt. Alles prasselt auf mich ein. Jeder Post. Jedes Reel. Jede Story. Social Media überfordert mich. Totale Reizüberflutung. Permanente Informationsflut. Vergleiche mit anderen Betroffenen, die scheinbar besser mit der Krankheit zurechtkommen als ich. Das sind Herausforderungen, denen ich momentan nicht gewachsen bin.

Dazu kommen die Schuldgefühle: Ich sollte doch reagieren. Ich sollte präsent bleiben. Meine Herzensmission, die Sichtbarkeit von chronischen und unsichtbaren Krankheiten, vorantreiben. Aber ich kann gerade nicht. Kopf und Körper brauchen die Pause.

Meine Erfahrung ist individuell, ich weiß. Aber ich höre von einigen Betroffenen, dass sie ganz ähnlich empfinden. Und genau deshalb lohnt es sich, genauer hinzuschauen.

Long Covid- und ME/CFS-Symptome, die die Social Media-Nutzung erschweren

Brain Fog: Wenn Informationen im Nebel verschwinden

Unter Brain Fog versteht man eine Form kognitiver Beeinträchtigung, die die Konzentrations- und Merkfähigkeit stark einschränkt.

Für mich fühlt sich es an, als würde ich durch einen Nebel Informationen verarbeiten. Mit eingeschränktem Sehfeld und einem Kopf, der alles nur gedämpft verarbeitet.

Konkret bedeutet das, dass ich einen Post manchmal zwei oder dreimal lesen muss, bis ich ihn verstehe. Dabei vergesse ich, was am Anfang stand. Oder ich scrolle durch meinen Feed und kann mich fünf Minuten später nicht mehr erinnern, welchen Beitrag ich gesehen habe.

Fatigue: Die unsichtbare Erschöpfung

Fatigue ist keine normale Müdigkeit. Es ist eine extreme, lähmende Erschöpfung, die sich durch jegliche Aktivität verschlechtert.

Social Media verstärkt das: Der schnelle Wechsel zwischen den Posts, Reels und/oder Stories fordert unser Gehirn heraus, was wiederum die Verarbeitungszeit verringert. 10 Minuten fühlen sich an, als wäre ich ein Marathon gelaufen. Mein Energiespeicher ist leer. Ich muss mich hinlegen. Brauche eine Pause.

Reizüberflutung: Sinneseindrücke, die zu viel werden

Menschen mit Long- bzw. Post Covid und ME/CFS sind häufig extrem empfindlich gegenüber Reizen. Licht, Geräusche, Bewegung – alles wird intensiver wahrgenommen.

Und Social Media ist ein Feuerwerk an Reizen: bunte Bilder, schnelle Bildwechsel, Videos mit Musik, blinkende Texte. Was andere als unterhaltsam empfinden, ist – zumindest bei mir – ein Angriff auf ein überlastetes Nervensystem. Das bedeutet:

  • der Puls steigt
  • der Schwindel wird stärker
  • die Übelkeit nimmt zu
  • der Kopf dröhnt und
  • die Hände zittern

Reizüberflutung pur.

Chancen und Risiken von Social Media bei Long Covid und ME/CFS

Soziale Medien sind für viele Menschen mit Long Covid und ME/CFS ein zweischneidiges Schwert. Einerseits bieten sie Betroffenen wertvolle Möglichkeiten zum Vernetzen sowie zum Informationsaustausch, zur Informationsbeschaffung und bieten emotionalen Rückhalt. Letzteres zeigt sich darin, dass uns Plattformen wie Instagram, Facebook oder TikTok, gerade in Zeiten, in denen persönliche Treffen nicht möglich sind, einen geschützten Raum bieten, in denen wir nicht allein sind und uns isoliert fühlen.

Doch auf der anderen Seite bergen soziale Medien erhebliche Risiken. Die oftmals unkritische, ständige und/oder widersprüchliche Verfügbarkeit von Informationen, führt zu Überforderung und Verunsicherung. Diese zeigt sich in permanenter Reizüberflutung, dem Vergleich mit anderen Betroffenen, eventuell idealisierten Darstellungen anderer und fehlenden Reaktionen auf getätigte Posts oder negativen Kommentaren. All dies stresst. Belastet. Selbstzweifel werden verstärkt.

Warum Social Media chronisch kranke Menschen stresst

Die Algorithmen sozialer Medien zeigen uns nur das an, wofür wir uns interessieren. Klingt erstmal gut, oder? Das Problem dabei: Den Plattformen geht es nicht um dein persönliches Nutzerwohl, sondern um deine Aufmerksamkeit. Sie wollen, dass du so lange wie möglich, auf der Plattform bleibst.

Das bedeutet für uns Betroffene eine kaum kontrollierbare Wiederholung von Reizen, die das Gehirn unter ständiger Belastung halten. Der Algorithmus merkt, dass wir uns für Long Covid und ME/CFS interessieren und zeigt uns fortlaufend Inhalte rund um die Krankheit, Symptome und Erfahrungsberichte. Unser Gehirn bekommt keine Pause von der Krankheit – nicht einmal in der kurzen Zeit, in der wir Ablenkung suchen.

Ständige Benachrichtigungen erzeugen zudem das Gefühl permanenter Erreichbarkeit und lassen dadurch kaum Raum für Erholung. Pling – jemand hat dein Post kommentiert. Pling – eine neue Nachricht. Jede Benachrichtigung, jede Unterbrechung kostet Energie.

Und dann ist da noch der soziale Druck: Man möchte sich mit Gleichgesinnten austauschen. Eigene Erfahrungen teilen. Andere Betroffene motivieren. Für sie da sein. Aber auch das erzeugt Stress. Denn wenn ich selbst kaum Energie habe, wie soll ich da noch für andere da sein? Die Schuldgefühle sind enorm. Die innere Anspannung ebenfalls.

Typische Warn- und Überforderungsignale, die Long Covid-Betroffene im Umgang mit Social Media kennen sollten

  • Druck hinter den Augen
  • verschwommenes Sehen bzw. eingeschränktes Sehfeld
  • Herzrasen beim Scrollen
  • zunehmender Brain Fog
  • Übelkeit und/oder Schwindel
  • steigende Gereiztheit
  • innere Unruhe

Diese Signale sind ein Hinweis deines Nervensystems, dass gerade zu viel passiert.

5 Strategien und Tipps für digitale Selbstfürsorge

Bewährte Strategien können helfen, die digitale Belastung zu reduzieren. Nicht alle funktionieren jeden Tag, aber zumindest geben sie mir Werkzeuge an die Hand, meine Grenzen besser zu wahren.

1. Digitale Pausen nach dem Pacing-Prinzip

  1. Was ist Pacing? Pacing ist ein etabliertes Konzept aus dem Long Covid- und ME/CFS-Energiemanagement, bei dem es darum geht, Aktivitäten so zu dosieren oder planen, dass man innerhalb seiner Energiegrenzen bleibt und Überanstrengung vermeidet. Also kurz gesagt: Stoppen, bevor es zu spät ist.

Auf Social Media angewandt bedeutet dies, mir feste Pausen zu gönnen, wie beispielsweise diese zwei Wochen. Eine weitere Möglichkeit ist, das in der App festgelegte Zeitlimit.

2. Push-Nachrichten deaktivieren

Mein Handy vibriert nicht mehr bei Benachrichtigungen in den sozialen Medien. Ich entscheide, wann ich auf mein Handy schaue – nicht die Apps. Diese kleine Änderung hat mein Stresspegel deutlich gesenkt. Ich reagiere, wann ich möchte. Die Kontrolle liegt bei mir.

3. Bewusst auswählen, welchen Accounts ich folge

Vor einiger Zeit bin ich allen Accounts entfolgt, dir mir keinen Mehrwert liefern und die mich mehr stressen, als sie mir guttun.

Stattdessen folge ich jetzt:

  • Accounts, die nah an mir und meiner Krankheit sind
  • Accounts, mit hilfreichen, praktischen Tipps
  • Accounts, die Hoffnung machen
  • Accounts, mit schönen, beruhigenden Inhalten, die mein Nervensystem entspannen (Natur, Kunst und ja, auch Welpen)

(D)Ein Feed sollte dich nicht erschöpfen, sondern dir Freude bereiten.

4. Klare Grenzen in Communities setzen

In Communities oder Selbsthilfegruppen ist es wichtig, die eigenen Grenzen zu kommunizieren. Mittlerweile sage ich,

  • wenn ich keine Energie habe, um zu antworten
  • dass ich mich wieder melde, wenn es mir besser geht
  • wenn ich eine Pause von der Gruppe oder einzelnen Menschen brauche

Die Meisten verstehen das. Sie kennen es selbst.

5. Offen mit Familie und Freunden über die Belastung sprechen

Dieser Punkt ist mir besonders wichtig: Ich habe meinen engsten Vertrauten erklärt, warum ich manchmal nicht erreichbar bin oder sein will. Warum ich nicht sofort antworte. Warum ich mich komplett aus den sozialen Medien oder Communities zurückziehe.

Sie wissen jetzt: Wenn ich nicht reagiere, geht es mir nicht gut. Sie respektieren das.

Fazit: Gesunde Balance im digitalen Alltag ist möglich

Social Media ist für Menschen mit Long- bzw. Post Covid und ME/CFS Fluch und Segen zugleich. Einerseits ermöglicht es Vernetzung, Austausch und emotionalen Rückhalt mit einer oft isolierten chronischen und unsichtbaren Krankheit. Anderseits kann die ständige Reizüberflutung, der Vergleichsdruck und die vom Algorithmus manipulierten Nachrichten, zu massiver Überforderung führen.

Die gute Nachricht: Eine bewusste, achtsame Mediennutzung hilft, das eigene Wohlbefinden zu schützen und die positiven Seiten sozialer Medien zu erhalten, ohne uns selbst dabei zu verlieren.

Indem wir unsere Grenzen anerkennen und technische sowie soziale Strategien nutzen, lässt sich digitale Überforderung nachhaltig reduzieren. Es ist okay, Pausen zu machen. Es ist okay, nicht immer erreichbar zu sein. Ebenso ist es okay, in der digitalen Welt Grenzen zu setzen und Nein zu sagen.

Somit ist es möglich, weiterhin mit Long Covid und ME/CFS in der digitalen Welt gut vernetzt zu bleiben.


Wie gehst du mit Social Media um? Welche Strategien helfen dir? Ich würde mich freuen, von deinen Erfahrungen zu hören – wenn du die Energie dafür hast. Und wenn nicht: Auch das ist vollkommen in Ordnung.


Über die Autorin

Ich bin Severine Tanja Rein und lebe seit April 2021 mit der Diagnose Post-/Long Covid und ME/CFS.

Auf meinem Blog atemdenkschaltwerk teile ich meine Gedanken, Erfahrungen, Strategien und inneren Prozesse aus meinem Alltag mit chronischer Krankheit. Mein Ziel dabei ist, chronische und unsichtbare Krankheiten sichtbarer zu machen. Denn wir sind mehr als unsere Symptome. Unsere Geschichten verdienen es, gehört zu werden.

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