Ruheinseln als Rettungsanker

Das Leben mit einer chronischen Erkrankung fühlt sich oft so an, als wenn ich auf offener See in einen heftigen Sturm gerate. Reizüberflutungen und Erschöpfung zerren und reißen an mir wie starke Windböen. Im richtigen Moment den Anker werfen, Halt finden und den Blick auf das Wesentliche und Notwendige zu schärfen, ist Übung und zwischenzeitlich Erfahrung zugleich.

Doch welche Situationen in meinem Leben – vielleicht auch dem Leben manch anderer chronischen erkrankten Personen – bedürfen eines Rettungsankers im Sinne von Ruheinsel? Das ist eine Frage, auf die ich gern näher eingehen möchte. Heiko Metz ruft in seiner aktuellen Blogparade „Wie ich mir Ruheinseln im hektischen Alltag schaffe“ dazu auf, Erfahrungen und Tipps zu teilen. Da beteilige ich mich gern dabei.

Ruhe und Arbeit – ein Widerspruch?

Was bedeutet es, sich Ruheinseln zu schaffen? Vor meiner chronischen Erkrankung suchte ich überwiegend Ruhe in Form von Entspannung bzgl. meiner Arbeit.

Mein vorheriges Leben existierte sozusagen aus Arbeit, denn das, was ich beruflich ausführte, war meine Berufung. Es war keine Arbeit, die ich machte, um nur Geld zu verdienen, sondern ich lebte für meinen Beruf. Es gab kaum ein Wochenende, an dem ich nicht samstags zu meiner Arbeitsstätte gefahren bin. Ich liebte den Kontakt zu Weiterbildungsteilnehmer:innen, den Dozenten, zu Firmen, mit denen wir zusammenarbeiteten, das Netzwerken mit anderen Weiterbildungseinrichtungen – kurz den Austausch untereinander. Ich sog förmlich aus allen Gesprächen neuen Inspirationen, die es dann umzusetzen hieß.

Rückblickend würde ich sogar sagen, dass ich mich durch meine Arbeit definierte. Nur während meines (Jahres)Urlaubs, ging ich nicht ans Handy oder an meinem Arbeitsplatz. Das, was ich machte und auf den Weg brachte, war gut. Aber das hieß auch für mich, nicht nachzulassen. Ich wollte Qualität und einen Mehrwert bieten, der im Kopf bleibt und mich zugleich zufriedenstellt.

Ruhepol Urlaub

Meinen 3-wöchigen Sommerurlaub nutze ich meist zum Verreisen mit meinem Mann. Diese Zeit war mir heilig, denn wir hatten aufgrund meines Lebens für den Beruf, wenig gemeinsame Stunden. Wir beide sind bzw. waren Aktiv-Urlauber. Unsere Entspannungs- bzw. Ruhephasen fanden wir in den Bergen, in fernen Ländern oder auf ausgewählten Radstrecken in tollen Regionen.

Somit definierten wir Erholung, mit Aktivität und Erlebnissen. Es machte uns Freude, neue Länder und andere Menschen kennenzulernen oder auch einfach nur Gartenarbeiten durchzuführen oder Projekte im bzw. am Haus umzusetzen. Wir waren noch nie „Strand-Lieger“, daher waren es genau diese Tätigkeiten und die damit einhergehenden Geschichten, die unsere Ruheinseln vom Berufsleben und Alltag waren.

Doch wie es so ist, mit einem Jahresurlaub: Das größte Problem war immer punktgenau zum Tag x abzuschalten. Das ging nicht – zumindest nicht bei mir. Es verging immer ca. eine Woche, bevor ich den Punkt erreichte, an dem der Kopf frei und nicht mehr bei der Arbeit war. Erst dann begann die Entspannung, das Denken und Fühlen abseits der Arbeit. Dies hielt allerdings nicht lange vor, denn drei bis fünf Tage vor Ende des Urlaubs, war ich gedanklich schon wieder damit beschäftigt, was in der Arbeit angefallen sein könnte und welche neuen Weiterbildungslehrgänge Potenzial auf Erfolg boten bzw. mit welchen Firmen wir evtl. für die Zielerreichung kooperieren könnten.

Der Umbruch in Bezug auf Ruhe

Mit meiner Corona-Erkrankung im April 2021 stand die Welt auf einmal still. Ich lag aufgrund der Schwere der Erkrankung im Krankenhaus. Denken konnte ich zu diesem Zeitpunkt nicht viel – es ging um’s überleben und einigermaßen heil aus dieser Sache herauszukommen.

Irgendwann danach kam der Punkt, an dem ich über mein Leben nachdachte. Es war mir klar, dass ich bis zur Erkrankung ein sehr aktives und Adrenalin-bezogenes Leben führte. Mein Erfolg, indem was ich bis dato tat, war mein Antriebsmotor. Was aber ist mit der Verbindung Körper und Seele? Wann, außerhalb dieser jährlichen drei Wochen Sommerurlaub, gab ich meiner Seele und meinem Kopf bzw. Geist die Möglichkeit, zur Ruhe zu kommen und Energie zu tanken? Ich hatte es verzockt. Die Signale wurden von mir total ignoriert.

Kümmere dich um deinen Körper. Es ist der einzige Ort, den du zum Leben hast.“

Verfasser unbekannt

Im Rahmen der Reha und in vielen Gesprächen mit Ärzten, wurde ich an die Hand genommen, meinen Körper (wieder) zu spüren und eine Verbindung zu ihm zu schaffen. Ihn nicht als „selbstverständlich“ und „automatisch funktionierend“ anzusehen. Es wurde mir bewusst, dass es ein Geben und Nehmen ist – wie in einer Beziehung oder liebgewonnen Freundschaft. Nach wie vor kann ich nur noch den Kopf darüber schütteln, dass mir dieses Gefühl jemals abhandengekommen ist.

Einblick in meinen Alltag

Heute brauche ich mehr Ruheinseln, als ich mir jemals erträumt hätte. Mein Tag besteht zum Großteil nur aus Ruhepausen und Kraft tanken, um die nächste Therapie, den nächsten Arzttermin oder Klinikbesuch wahrzunehmen. Mit Achtsamkeits- bzw. Meditations- und Atemübungen, beuge ich einer schnellen „Entladung“ vor.

Jegliche Belastung im Alltag kostet mich wahnsinnig viel Energie. Allein die Reize, denen ich mich aussetze, wenn ich einen der oben genannten Termine wahrnehme, führen zu totaler Reizüberflutung. Zu viele Menschen kreuzen meine Wege. Überall nehme ich Geräuschfetzen aus Gesprächen mit den unterschiedlichsten Tonlagen wahr und ich bin einfach überfordert, aufgrund der schnellen und meist hektischen Bewegungen um mich herum. Vom Verkehr ganz zu schweigen. Stehende Autos an einer Ampel oder evtl. auch ein Stau, aufgrund irgendwelchen Wartungsarbeiten oder dergleichen, bringen mich einer Panikattacke näher. Der Verkehr an sich, die vielen unterschiedlichen Autofarben und -formen, dazu noch Radfahrer und Fußgänger, irritieren mich zwischenzeitlich. Der Kopf kommt nicht nach, all diese Reize zu verarbeiten.

Was ich dann benötige, ist eine kleine Auszeit. Ich brauche ganz dringend und schnell einen Ort, an den ich mich zurückzuziehen kann, ohne abgelenkt zu werden. Größtenteils sind das in den Momenten Eingänge zu irgendwelchen Praxen bzw. Bürogebäuden oder eine Seitenstraße, die nicht sonderlich frequentiert ist. Erst unter Einsatz bestimmter Atemübungen kann ich wieder durchatmen. Parallel dazu versuche ich meinen Nerven, mit einer gut riechenden Handcreme, einem Päckchen Vanillin-Zucker oder bestimmten Übungen, andere Reize zu setzen.

Lernfaktor Ruhe

Mit Ruhe bzw. Stille umzugehen, musste ich erst wieder lernen. Wenn ich heute gefragt werde, ob es mir nicht zu leise um mich herum ist und ich den Trubel vermisse, kann ich aus tiefstem Herzen verneinen. Es war eine Umstellung, mit der Ruhe und Stille klarzukommen – einfach weil sie so konträr zu meinem vorherigen Leben war. Aber heute brauche ich diese Ruhe und meine Ruheoasen. Sie geben mir auf ihre Weise Trost, Halt, Beistand wie auch Zuflucht und Raum für mich.

Meine Ruheoasen

Je nach Ruhebedürfnis habe ich mir zu Hause mehrere Oasen der Ruhe geschaffen.

In meinem Lesezimmer liegt zwischenzeitlich eine Matte sowie ein Yoga-Sitzkissen. Hier führe ich meine täglichen Meditationen und Atemübungen aus.

Des Weiteren gibt eine Art „Schatzkiste“, in der ich positive Notizen, Motivationssprüche oder materielle Dinge aufbewahre. Die Inhalte der Kiste gaben und geben mir nach vor einen Halt und begleiten mich auf meinem Weg zur Genesung und einem erfüllten Leben.

Immer in Griffweite ist auch mein Noise-Cancelling-Kopfhörer, meine Sonnenbrille sowie Kühlpads. Mit diesen Hilfsmitteln kann ich die Reize abschirmen und in einen Ruhemodus übergehen.

Die beste Ruheoase in meinem Leben ist derzeit mein Platz am Beatmungsgerät. Das Atmen fällt mir nach wie vor sehr schwer. Nichts anderes hat daher so eine entspannende Wirkung, gibt mir Sicherheit und unterstützt mich bei der Atmung.

Sollte das Wetter kühl – und am besten bewölkt – sein, nehme ich sehr gern den Platz in meinem Hängesessel draußen auf der Terrasse ein. Ich liebe diesen Sessel und feiere noch heute dessen Anschaffung. Das leichte Schaukeln in dem Sessel tut mir gut und lässt meine Gedanken frei. Der Blick in unseren Garten und das, was wir erschaffen haben, erdet mich.

Und zu guter Letzt ist die gelebte neue Zweisamkeit, die Liebe zueinander und das Verständnis seitens meines Mannes für die Erkrankung, eine weitere Oase der Ruhe. Niemand anders versteht mich besser als er. Bei ihm muss ich mich nicht rechtfertigen, weil ich soviel schlafe und ständig Pausen brauche, sondern darf sein, wie ich bin – nämlich chronisch erkrankt, mit zig Symptomen, die unser beider Leben beeinflusst.

Fazit

Ruheinseln findet man nicht nur auf materieller Seite in Form von Raumgestaltung oder Sitz- bzw. Liegemöbel. Die meinem Erachten nach wichtigere Ruheinseln, die leider im Alltag oft zu kurz kommen und die wir erst wieder suchen müssen, finden wir in uns selbst und in Menschen, die wir im Herzen haben. Ich weiß nicht, wie du als Lesender dieses Blogartikels das siehst, aber ich bin der Meinung, kein Geld der Welt kann dies ersetzen.

3 Kommentare

  1. Unsere Welt wird immer schneller, und es scheint schwieriger denn je, kleine Oasen der Ruhe im hektischen Alltag zu finden. Umso wichtiger ist es, bewusste Pausen einzulegen, um Kraft zu tanken und wieder ins Gleichgewicht zu kommen.

    Bei meiner Blogparade „Ruheinseln im Alltag“ haben sich viele inspirierende Bloggerinnen Gedanken darüber gemacht, wie sie persönliche Ruheorte und Rituale schaffen, die ihnen dabei helfen, dem Stress zu entfliehen. Vielen Dank euch allen!

    In einem Wrap-up-Artikel habe ich die schönsten, originellsten und praktischsten Tipps zusammengestellt, die während dieser Blogparade zusammengekommen sind. Jeder Beitrag bietet neue Perspektiven und Ideen, wie wir uns Momente der Entspannung schaffen können – egal, wie hektisch unser Leben auch sein mag.

    Was alle Beiträge gemeinsam haben, ist die Erkenntnis, dass wir die Verantwortung für unser Wohlbefinden selbst in die Hand nehmen können, indem wir uns regelmäßig Zeit für uns selbst nehmen. Echte Selbstfürsorge betreiben und die ein oder andere Ruheinsel schaffen, auf der wir unsere kleinen und größeren Auszeiten verbringen können.

    Ich hoffe, dass diese Zusammenstellung dir Inspiration gibt, deine eigenen Ruheinseln zu entdecken und zu gestalten.

    https://heiko-metz.de/ruheinseln-im-alltag-schaffen/

    Viele Grüße
    Heiko

  2. Hallo Severin,
    vielen Dank für deinen Blogparadenbeitrag. Und danke auch für den Einblick in dein Erleben!

    Ich habe das im Laufe des Burn-outs selbst so erlebt, dass Ruheinseln, die „in meinem früheren Leben“ gefühlt lediglich hilfreich gewesen wären, auf einmal absolute Dringlichkeit bekommen, weil es ohne einfach nicht mehr geht. Und – Stand heute – werde ich diese Ruheinseln in meinem Alltag auch weiterhin viel intensiver brauchen als vor dem Burn-out. Das ist eine ziemliche Umstellung, im Leben, Arbeiten und auch im Selbstbild.

    Ich wünsche dir, dass du immer dann leicht Ruheinseln finden kannst, wenn du sie benötigst. Wie schön, dass dein Mann dich dabei unterstützt. Das ist tatsächlich nicht mit Geld aufzuwiegen!

    Gruß
    Heiko

    1. Hallo Heiko,
      das, was uns alle mit einer chronischen Erkrankung eint, ist, dass wir unser Bewusstsein für Ruhe(inseln) bzw. Selbstfürsorge und -liebe, mittlerweile als oberste Priorität ansehen und dies erkannt haben. Wir werden weiterhin auf uns und unser Wohlbefinden achten. Und das ist auch gut so.

      Ich wünsche dir alles Gute und danke dir für deinen Kommentar.

      Liebe Grüße
      Sevi

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