Kennst du das auch, dass du aufgrund deiner chronischen und unsichtbaren Erkrankung so sehr damit beschäftigt bist, auf mögliche Warnsignale deines Körper zu achten? Ich höre in mich hinein, checke immer wieder meinen Puls und meine Herzfrequenz, achte darauf, wie müde und erschöpft ich bin und ob das Atmen (noch) schwerer fällt als sonst. Dabei vergleiche ich im Kopf meinen Zustand mit gestern oder den Tagen zuvor, analysiere, kontrolliere und halte es in meinem Symptom-Tagebuch fest.
Wenn auch du mit einer chronischen Erkrankung wie Long Covid, ME/CFS oder ähnlichem lebst, wirst du wissen, dass das Überwachen des eigenen Befindens schnell zu einem täglichen Projekt wird. Denn ob wir wollen oder nicht: wir müssen sehr genau auf Auswirkungen unsers Körpers achten, um uns vor PEM bzw. einem Crash zu schützen. Daher vergeht kein Tag, der nicht im Ablauf geplant ist. Doch dieser notwendige Fokus auf Planung und Symptomveränderungen, kann irgendwann so groß werden, dass er fast das ganze Leben einnimmt.
Somit kam bei mir irgendwanndie Frage auf: Hilft mir die Symptomkontrolle wirklich oder zieht sie mich tiefer in meine Krankheit hinein?
Wenn Symptomkontrolle zur Sicherheit beiträgt
Wenn der Körper leidet, ist es selbstverständlich, den Fokus auf Symptomkontrolle zu legen. Denn unser Körper wurde durch unsere Krankheit plötzlich unberechenbar und lässt uns öfter im Stich, als wir es uns wünschen. Durch die Kontrolle, verschaffen wir ihm und uns Sicherheit.
Medikamente, die Verwendung geeigneter Hilfsmittel (wie mein Rollator, der einen Namen hat), Routinen und spezielle Rituale für schwere Tage sowie das festhalten von Symptomveränderungen tragen dazu bei, die Krankheit zu managen und uns gesund zu halten. Herzfrequenz, Schlaf und jegliche Aktivität werden getrackt, verbunden mit dem Ziel eine Post-Exterional Malaise (PEM) zu vermeiden. Das zugrundeliegende Motto heißt dabei: überleben statt leben. Doch diese ständige Kontrolle nimmt dabei einen großen Einfluss auf mein Leben ein.
Der psychologische Effekt dahinter
Laut meiner Psychologin ist das verständlich. Wenn etwas unsicher ist, versucht unser Gehirn, Muster zu erkennen.
„Wenn ich das tue, passiert jenes“ – das ist unser ältester Überlebensinstinkt und danach richten wir uns. Nur bei einer chronischen Krankheit funktioniert diese Logik oft nicht mehr. Denn auch wenn wir uns daran halten, fühlen wir uns mal besser oder schlechter. Wir wissen jedoch nicht warum. Haben keinen Einfluss darauf. Wir suchen (anfangs) nach Erklärungen. Doch je intensiver wir uns damit beschäftigen, desto mehr Trigger und damit in Verbindung auftretende Symptome finden wir. Das führt zu Angst bzw. Anspannung.
So entsteht folgender Kreislauf:
Wahrnehmung ➡️Bewertung ➡️ Angst/Anspannung➡️ noch mehr Symptome ➡️ noch mehr Beobachtung.
Krankheit als Mittel- oder Wendepunkt, Stärke neu zu definieren
Irgendwann kommt der Moment, an dem man merkt, dass es so nicht weitergeht. Es muss sich etwas verändern, um aus diesem nicht endend wollenden Kreislauf auszubrechen. Doch was tun? Ein Perspektivwechsel muss her: Was ist, wenn meine unsichtbare Erkrankung nur ein Teil meines Lebens wäre?
Je mehr ich mich damit auseinandersetzte, desto klarer wurde mir, dass ich meiner Krankheit nicht die alleinige Regie darüber überlassen möchte, wie ich mit meiner Long Covid-Diagnose und der damit einhergehenden ME/CFS klarkomme und lebe. Stattdessen entlaste ich mein Nervensystem so gut wie möglich und stärke dazu parallel meinen inneren Frieden.
Somit entstand etwas Neues – nämlich die Bereitschaft, Stärke neu zu verstehen. Ich definiere ich nicht mehr mit meiner Arbeits- bzw. Tagesleistung, sondern damit, zu glauben und zu wissen, dass ich diesen Kreislauf verlassen kann, auch wenn mir mein Körper Grenzen setzt.
Das war mein Wendepunkt. Statt mich weiter von der ständigen Symptomkontrolle leiten zu lassen, richtete ich meinen Blick auf meine Stärken.
Diese Neudefinition meiner Stärken trägt mehr zur Heilung bei als jede Symptomanalyse.
Warum innere Stärke bei chronischen Erkrankungen heilsam wirkt
Die Verbindungen zwischen Körper, Geist und Emotionen sind eng. Wer lernt, den Blick auf das zu richten, was trotzdem funktioniert, unterstützt damit die eigene Regeneration.
Unser Gehirn braucht nicht nur Warnsignale, es braucht auch positive Rückmeldungen, um das Nervensystem zu beruhigen.
Damit meine ich nicht nur Fortschritte z. B. der körperlichen Art, sondern alles, was von innen heraus nährt und Freude bereitet. Das kann eine schöne Erinnerung sein, eine besondere Fähigkeit wie Empathie, ein Mensch, eine Haltung oder einfach auch was Schönes zum Anschauen.
Denn wenn wir uns an etwas erinneren, das Freude macht, wir Mitgefühl empfinden, spüren, dass wir „nicht nur unsere Krankheit sind“, dann verändert sich auch die innere „Chemie“ und wir finden Balance im Alltag. Die Stresshormone sinken, der Parasympathikus wird (endlich mal wieder) aktiv und die Atmung wird freier, einfacher und verbessert sich (zumindest bei mir).
Das sind einfache Ressourcen, die mir Kraft geben, ohne mich zu überfordern. Aber wie gelingt dieser Schritt des Umdenkens hin zur inneren Stärke?
Der Schlüssel liegt in einem vierstufigen Prozess:
Der 4 Schritte-Plan, um den Fokus auf innere Stärke zu lenken
- Schritt 1: Wahrnehmen von Emotionen ohne Wertung 🧘
Damit meine ich, bei Symptomen bewusst in dich hineinzuhören bzw. -fühlen, ohne direkt danach eine Analyse zu starten. Wenn du erschöpft bist oder Schmerzen hast, ist das so. Punkt. Nehme es an und hinterfrage dabei nicht, was du falsch gemacht hast oder wo du über deine Grenzen gegangen bist. Dabei definierst du dich nicht mehr über deine Einschränkungen, sondern über deine Qualitäten und stärkst dabei deinen Selbstwert.
- Schritt 2: Neugier statt Kontrolle 🔍
Versuche nicht alles zu verstehen, sondern es nur zu beobachten. Wenn ich z. B. in meinem Hängesessel Wolken betrachte, bin ich zwar von der Form fasziniert und verfolge die Veränderung aufmerksam, aber ich habe keinen Einfluss darauf. Sie kommt in mein Blickfeld, ändert sich und zieht weiter.
Mir nimmt dieses „Wolken betrachten“ Druck raus, ähnlich, wie wenn ich Vögel im Garten beobachte. Genau diese Haltung versuche ich auch meinen Symptomen gegenüber einzunehmen – wahrnehmen ohne festzuhalten.
- Schritt 3: Weite statt Enge 🌎
Beim dritten Schritt wendest du dich aktiv dem zu, was dir persönlich guttut. Richte dein Augenmerk auf schöne Momente, selbst wenn es nur eine klitzekleine Sache ist, wie dem Duft deiner Bodylotion, einer schönen Erinnerung oder auch, dass du heute Übungen mit deinem Theraband ausführen konntest.
- Schritt 4: Akzeptanz, ohne aufzugeben 🤝
Du erkennst an, was ist – ohne die Hoffnung auf Besserung zu verlieren.
Mit diesen 4 Schritten fokussierst du dich auf das, was dich trägt und erfüllt, statt auf das, was nicht funktioniert.
Eine kleine mentale Übung:
- Fühl in dich hinein und nimm wahr. Beispiel: „Ich kann mich heute nicht konzentrieren“.
- Nach einer Ausatmung, ergänze innerlich: Das ist okay.
- Überlege dir dann, wie du trotzdem energiesparend ins Tun kommst. Hier z. B.: dann werde ich meine Bildschirmzeit auf x Minuten reduzieren.
Durch das Ausführen dieser Übung bekommt jedes Symptom sofort eine Verbindung zu einer energieschonenden Kraftreserve. Damit kannst du deinen Tag gestalten, ohne dich in deiner Krankheit und Symptomkontrolle zu verlieren.
Mit der Zeit bemerkst du, dass sich dein Ton dir gegenüber verändert. Du gehst freundlicher, im besten Fall großzügiger mit dir um und betreibst dabei Selbstfürsorge.
Und falls du gerade denkst „Das ist leicht gesagt. Ich schaffe das nicht“ ist das auch okay. Fang klein an. Jeder Schritt zählt.
Beispiele innerer Stärken, die im Krankheitsprozess wachsen dürfen
Wenn ich etwas im Laufe meiner Erkrankung entdeckt habe, das mir wirklich täglich weiterhilft, sind es diese Stärken:
- Geduld: Warten und annehmen ohne zu verzweifeln. Du kannst es eh nicht ändern, sondern nur deinen Teil dazu beitragen.
- Intuition: Den eigenen Körper (wieder) spüren und wahrnehmen (lernen).
- Mitgefühl: Für dich selbst und für andere, die den gleichen oder ähnlichen Weg gehen, wie du.
- Kreativität: Drück dich über Bilder, ein Gedicht oder ähnliches aus und zeige dadurch anderen, was in dir vorgeht – gerade (oder trotz) deiner Einschränkungen.
- Präsenz: Schätze den Moment und schieb nichts auf. Warte nicht auf „später“.
Probiere es aus und/oder reflektiere, wie weit du mit deinen inneren Stärken schon bist. Glaub mir, sie unterstützen dich auf deinem Genesungsweg.
Die Angst zu positiv zu denken
Möglicherweise kommt dir beim Lesen der Gedanke, dass der Fokus auf deine Stärken bedeutet, die Realität deiner Krankheit zu leugnen. Aber dem ist nicht so. Du leugnest beim Suchen und Finden deiner inneren Stärke nicht deinen Schmerz und die Symptome. Du leitest nur deinen Fokus um und schaffst Raum für beides: das Wahrnehmen und Annehmen deiner chronischen Erkrankung.
Verzweiflung, Traurigkeit, erschöpft sein schließt Dankbarkeit, Neugier und Hoffnung nicht aus. Sie tragen dich gemeinsam durch deinen Krankheitsprozess.
Heilung bedeutet nicht automatisch gesund zu werden
Manche Betroffene von chronischen Krankheiten wie Long Covid oder ME/CFS teilen meine Meinung und berichten in diversen Foren und Selbsthilfegruppen, dass die Veränderung nicht nur durch eine Therapie kam, sondern auch durch die Haltung. Eine Haltung, die sagt: Ich bin nicht mein Symptom.
Wenn du das annimmst, entsteht trotz Schmerzen oder Erschöpfung Frieden zwischen dir und der Krankheit. Und genau an dem Punkt beginnt etwas, das du nicht beeinflussen kannst – der Prozess deiner inneren Genesung.
Fazit: Symptomkontrolle ja, aber ohne auf das Leben zu verzichten
Ich beobachte meine Symptome natürlich immer noch. Aber anders: nicht als etwas, das ich wie einen Gegner im Ring bekämpfe.
Ich möchte wissen, wie es meinem Körper und meiner Seele geht. Genau so möchte ich wissen, was mir Energie nimmt und was mir welche schenkt. Dabei versuche ich achtsam zu sein und betreibe aktive Selbstfürsorge.
Manchmal treibt mich ein Fortschritt in Zahlen an, wie z. B. dass ich an einzelnen Tagen meine täglichen Schritte von knapp 1.000 auf 1.200 erhöhen konnte – was ich natürlich freudig festhalte. Manchmal aber muss ich auch drei Tage im Bett akzeptieren, weil ich mir ausnahmsweise zwei Termine an einem Tag zugemutet habe.
Beide Beispiele zeigen mir: Heilung hat mit Selbstvertrauen und Akzeptanz zu tun.
Vertrauen in einen Körper, der sich nicht bewusst gegen dich richtet. Vertrauen darin, dass ein Leben auch inmitten von Grenzen möglich ist und dein Geist lernen darf, loszulassen.
Dieses Wissen trägt mich mehr als jede Analyse, Symptomkontrolle oder Nahrungsergänzungsmittel. Denn somit bin ich wieder (Mit)Gestalterin meines Lebens, auch wenn mein Körper nicht so oft mitspielt, wie ich mir das wünsche.
Wenn wir nicht nach dem suchen, was fehlt, das schätzen, was ist und womöglich bleibt, beginnt deine Reise Richtung Heilung.
Reflexionsfragen zum Mitnehmen
- Wie oft beobachtest und kontrollierst du dich?
- Welche Momente oder Situationen im Alltag lassen dich mit deiner chronischen Krankheit lebendig fühlen, auch wenn dein Körper erschöpft ist?
- Welchen Satz würdest du auswählen, der dich täglich daran erinnert, dass du mehr bist als deine Krankheit?
Schreibe mir die Antworten oder deine eigenen Erfahrungen gerne in die Kommentare oder mittels Direktnachricht. Deine Erfahrungen können auch anderen Betroffenen Mut machen.
Ich freue mich darauf, von dir zu lesen.
Häufige Fragen zu innerer Stärke bei chronischer Krankheit
Ist Symptombeobachtung bei chronischen Krankheiten schädlich?
Nein, Symptombeobachtung ist wichtig und notwendig. Schädlich wird es erst, wenn die ständige Kontrolle mehr Raum einnimmt als das Leben selbst und zu einem Kreislauf aus Angst und Anspannung führt. Es geht darum, achtsam zu beobachten statt zwanghaft zu kontrollieren.
Wie kann ich meinen Fokus von Symptomen auf innere Stärke lenken?
Beginne mit kleinen Schritten: Nimm Symptome wahr ohne sie zu bewerten, übe Neugier statt Kontrolle, richte deinen Blick bewusst auf schöne Momente und akzeptiere, was ist, ohne die Hoffnung aufzugeben. Die mentale Übung aus diesem Artikel kann dir dabei helfen, diese Haltung im Alltag zu trainieren.
Was bedeutet Heilung bei chronischer Krankheit?
Heilung bedeutet nicht zwangsläufig, gesund zu werden. Es kann auch bedeuten, inneren Frieden mit der Krankheit zu finden, sich nicht mehr über Symptome zu definieren und trotz körperlicher Grenzen wieder (Mit)Gestalter des eigenen Lebens zu werden. Heilung ist somit ein innerer Prozess der Transformation.
Über die Autorin
Ich bin Severine Tanja Rein und lebe seit April 2021 mit der Diagnose Post-/Long Covid und ME/CFS.
Auf meinem Blog atemdenkschaltwerk teile ich meine Gedanken, Erfahrungen, Strategien und inneren Prozesse aus meinem Alltag mit chronischer Krankheit. Mein Ziel dabei ist, chronische und unsichtbare Krankheiten sichtbarer zu machen. Denn wir sind mehr als unsere Symptome. Unsere Geschichten verdienen es, gehört zu werden.
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