Warum Selbstkritik uns zerstört und Selbstmitgefühl uns heilt

Man sieht auf dem Bild einen Waldweg, indem in der Mitte ein Weg aus Schotter nach oben verläuft. Rechts und links davon liegen Blätter. In der oberen Hälfte des Bildes ist das Grün der Bäume zu erkennen, die von rechts aus der Ecke mit einem Sonnenstrahl durchbrochen werden. Das Bild hat warme, natürliche Farben. Mittig unten ist ein leicht orange hinterlegter Banner, indem die Worte Selbstkritik vs. Selbstmitgefühl steht.

Kennst du diese Stimme in deinem Kopf?

Die, die flüstert: „Du bist nicht stark genug.“
Die, die schreit: „Reiß dich zusammen, andere schaffen das doch auch.“
Die, die bohrt: „Du bist nichts wert, wenn du nichts leistest.“

Für viele, die mit chronischen und unsichtbaren Erkrankungen leben, ist diese Stimme ein ständiger Begleiter. Sie wird lauter, sobald der Körper nicht mitmacht, wenn Pläne platzen, Routinen nicht eingehalten werden können oder wenn uns die Erschöpfung an den Rand der Verzweiflung bringt.

Ich kenne diese Stimmen gut. Sie waren lange meine härtesten Kritiker. Ich dachte, dass mich die Stimmen antreiben und mich vor Selbstmitleid und Selbstaufgabe bewahren. Doch das Gegenteil war der Fall.

Irgendwann habe ich mich gefragt, ob ich jemals so mit jemandem sprechen würde, den ich liebe und schätze? Die Antwort war ein klares Nein. Was also tun?

Warum sind wir so hart zu uns selbst?

Selbstkritik fühlt sich oft „richtig“ an, da sie uns ein Gefühl von Kontrolle gibt. Wir haben gelernt, dass wir uns nur genug anstrengen müssen, um Probleme zu lösen. Doch eine chronische und/oder unsichtbare Erkrankung lässt sich nicht mit Willenskraft besiegen.

Trotzdem sagen wir uns Dinge wie:

  • „Wenn ich mich vielleicht etwas mehr bemühe, geht es mir besser.“
  • „Ich darf keine Schwäche zeigen, sonst fühlen sich alle bestätigt.“
  • „Andere haben es auch schwer – ich sollte mich nicht so anstellen.“

Warum machen wir das? Weil wir Angst haben. Angst davor, zu fallen. Angst davor, wertlos zu sein (lese gerne dazu diesen Blogbeitrag). Angst davor, dass andere uns tatsächlich so sehen, wie wir uns selbst betrachten.

Aber die Wahrheit ist: Selbstkritik macht uns nicht stärker – sie schwächt uns.


Was wäre, wenn wir uns selbst mitfühlender behandeln – so, wie wir es brauchen?

Ein gängiger Satz von Therapeuten, Angehörigen oder auch Freunden: „Sei liebevoller zu dir selbst“. Eventuell hast du ihn auch schon in zig Büchern oder in gut gemeinten Ratgebern gelesen. Und vielleicht hast du innerlich gedacht:

  • „Du hast leicht reden – du hast ja nicht meine Probleme und Symptome.“
  • „Wenn ich da nicht drüber stehe, dann gebe ich mich meiner Krankheit hin.“
  • „Das klingt nett, aber meine Realität sieht anders aus.“

Ich verstehe dich. Wirklich. Es gibt Tage, an denen man sich selbst nicht einmal im Spiegel anschauen will, weil man sich fremd geworden ist. Weil man das Gefühl hat, nur noch eine schwache und ausgebrannte Version seines früheren Ichs zu sein. Und dann kommt da jemand ums Eck und sagt: „Sei liebevoller zu dir selbst“. Urgh! 🙈

Aber lass mich dich etwas fragen:

Was wäre, wenn du dir genau das gibst, was du dir insgeheim am meisten wünschst: Verständnis?

Nicht als „Denk doch mal positiv!“, sondern als ehrliche, mitfühlende Worte an dich selbst:

  • „Ich sehe, wie schwer es gerade ist und mit welchen Symptomen ich kämpfe“
  • „Ich weiß, dass ich mein Bestes gebe – auch wenn es sich nicht so anfühlt.“
  • „Ich bin für dich da – Körper und Seele – egal, was du heute brauchst.“

Denn das ist es doch, was wir uns eigentlich wünschen – verstanden zu werden, ohne dass jemand unsere Situation schönredet oder uns Tipps gibt, die an der Realität vorbeigehen.

Was, wenn du heute nicht gegen dich kämpfst, sondern dir selbst Mitgefühl und Mut schenkst?

Auch wenn es sich vielleicht so liest: Selbstmitgefühl ist kein Trick, um uns „besser zu fühlen“. Es ist eine Möglichkeit, uns mit der gleichen Fürsorge und Sensibilität zu begegnen, die wir einer geliebten Person schenken würden.

Wie du Selbstmitgefühl lernen und im Alltag anwenden kannst

1. Beobachte deine innere Stimme – sprich mit ihr

Das nächste Mal, wenn du dich selbst kritisierst, halte kurz inne. Nimm dir einen Moment Zeit. Reflektiere. Schließe die Augen und wiederhole dein inneres Selbstgespräch. Würdest du so mit jemandem reden, der dir am Herzen liegt?

Führe dazu folgende Übung aus:

  • Notiere einen selbstkritischen Gedanken.
  • Frage dich: „Ist das wirklich wahr?“
  • Formuliere danach eine mitfühlende bzw. stärkende Alternative.

Beispiel:
„Ich bin wertlos, weil ich nichts mehr auf die Reihe bekomme.“
„Ich bin wertvoll, weil ich bin. Nicht, weil ich leiste.“

Habe ich dich eventuell neugierig gemacht, wie du negative Gedanken auflösen und umwandeln kannst? Dann hab ich hier etwas für dich.


2. Sei für dich da – körperlich und emotional

Es klingt ungewohnt, aber der Körper versteht Berührung oft besser als Worte.

  • Lege eine Hand auf dein Herz und atme tief ein.
  • Sage dir selbst: „Ich bin für mich da. Ich darf zur Last fallen und Hilfe annehmen.“
  • Spüre die Wärme deiner eigenen Berührung – sie hält dich und gibt dir Stärke.

Probiere es aus. Dein Körper wird die Berührung und die darauf folgende Auswirkung verstehen, auch wenn dein Verstand noch zweifelt.

3. Erlaube dir, zu fühlen – ohne dich zu verurteilen

Traurigkeit, Wut, Angst – all das sind Gefühle, die auch Gesunde empfinden. Du darfst zweifeln. Du darfst müde sein. Du darfst dein altes Leben vermissen. Du darfst einfach Mensch sein. Es zeigt nur deine (Selbst)Reflexion. Wenn dir also danach ist, sag dir: „Heute ist ein schwerer Tag und das ist okay.“

Denn Selbstmitgefühl bedeutet unter anderem, selbst in schweren Momenten Emotionen zuzulassen.


Selbstmitgefühl ist keine Schwäche – es ist deine größte Kraft und der Beweis, dass du dich nicht aufgibst

Du kennst es vermutlich: Dieses Gefühl, dass man stark sein muss, weil man sonst „aufgibt“. Dass man denkt, sich selbst damit anzutreiben, weil niemand sonst einen aus dieser Situation herausholt.

Aber was ist, wenn genau das der Irrtum ist? Was, wenn wahre Stärke bedeutet, sich nicht mehr selbst zu bekämpfen?

Die Gesellschaft sagt uns oft, dass Selbstkritik Disziplin bedeutet, dass wir uns zusammenreißen müssen, um weiterzukommen. Doch niemand sagt uns, dass genau dieser innere Kampf uns erschöpft, uns jede Kraft nimmt, die wir eigentlich für unser Wohlbefinden und Heilung brauchen.

Ich habe erst durch meiner Erkrankung verstanden, dass Selbstmitgefühl kein „Nachgeben“ ist. Es ist kein Zeichen von Schwäche, sondern von Selbstachtung. Es bedeutet, sich nicht noch mehr innere Kämpfe aufzubürden, als die Krankheit es ohnehin schon macht.

Sage dir lieber:

  • „Ich bin es wert, mich auszuruhen.“
  • „Ich muss mir nichts beweisen – ich bin genug, so wie ich bin.“
  • „Ich darf Emotionen infrage stellen und zulassen. Es ist ein normaler Prozess.“

Wenn du dich heute nur für einen Moment daran erinnerst, dann hast du bereits den ersten Schritt gemacht.

Selbstmitgefühl zu leben, ist meinem Erachten nach kraftvoll:

  • Du kämpfst weniger gegen dich selbst und hast mehr Energie für das, was dir guttut.
  • Du hörst auf, dich für deine Krankheit zu rechtfertigen oder gar zu schämen und beginnst, dich selbst als Ganzes zu sehen.
  • Du kannst dich selbst stärken – auch an schweren Tagen.

Für Angehörige und Freunde: Wie ihr Betroffene von chronischen und unsichtbaren Krankheiten unterstützen könnt

Viele Angehörige wollen helfen, wissen aber nicht wie. Dabei reicht es schon aus, wenn du ihnen diese Worte mitgibst:

  • „Ich glaube dir. Ich sehe, wie schwer es gerade für dich ist.“
  • „Du musst dich nicht erklären. Ich bin immer für dich da.“
  • „Sag mir, was du heute brauchst – auch wenn es nur Zuhören ist.“

Was uns oft verletzt:

  • „Du musst nur positiver denken.“
  • „XY ist auch schwer krank – nimm dir an ihr/ihm ein Beispiel.“
  • „Du solltest mehr Sport treiben oder raus an die frische Luft.“
  • „Vielleicht lässt du dich zu sehr gehen.“

Manchmal ist Verständnis das größte Geschenk.

Fazit: Mit Selbstmitgefühl befreien wir uns aus dem Kreislauf der Selbstkritik und schaffen Raum für Akzeptanz

Selbstmitgefühl ist ein Weg – kein Ziel. Und jeder kleine Moment, in dem du dir selbst mit mehr Fürsorge begegnest, ist ein Schritt in Richtung Heilung.

Selbstmitgefühl ist der Anfang davon, dich selbst als wertvoll zu sehen. Genau jetzt. Genau so, wie du bist.

Wie gehst du mit deiner inneren Stimme um? Fällt es dir schwer, Selbstmitgefühl zu üben? Oder hast du einen Moment erlebt, in dem du gemerkt hast, dass es dich stärkt?

Teile deine Gedanken in den Kommentaren – denn wir alle gehen diesen Weg.

5 Kommentare

  1. Liebe Sevi,
    danke für deinen Artikel, der sehr anschaulich Mitleid gegen Mitgefühl abgrenzt. Ich lasse absichtlich das „Selbst“ dabei weg, denn so wie wir mit uns umgehen, gehen wir ganz schnell auch mit anderen um.
    Verständnis aufbringen und Toleranz, akzeptieren, was ist und das Beste draus machen, so gut es eben geht – wer diese Erkenntnis hat, geht sorgsamer, liebevoller und gesünder mit sich und anderen um.

    Ich selbst war früher auch eher eine Verdrängerin, bis ich in einer Talsohle erkannte, was mich stärkt: Hilfe suchen, Hilfe annehmen und Hilfe schätzen.

    Mein Mantra, das mich aus jenen Tagen auch heute noch trägt: Frage dich, ob du genug getan hast – für den Moment! – um dich weiterzubringen. Wenn du das mit Ja beantworten kannst, ruhe dich aus und nutze die Pause, um aufzutanken.
    So kam ich damals aus meiner „ich habe nicht genug geschafft“-Spirale raus.

    Viele Grüße Gabi

    1. Liebe Gabi,
      vielen Dank für deinen wertvollen Kommentar und das von dir erwähnte Mantra.

      Du hast so recht damit, sich zu täglich zu reflektieren. Zufriedenheit in der jeweiligen Situation, zu wissen, dass man für den Moment das Beste gibt, nicht zweifelt und der noch so kleinste Fortschritt einen persönlich weiterbringt, eröffnet neue Chancen. Neue Kraft wird freigesetzt, um den Weg erfüllt weiterzugehen.

      Mit Unterstützung von Familie, Freunden, Ärzten/Therapeuten und einem Austausch innerhalb von motivierten und/oder gleichgesinnten Gruppen, erreichen wir gemeinsam schneller das Ziel, das Vertrauen in uns selbst nicht zu verlieren.

      Dabei sollten wir uns immer vor Augen halten: Jeder von uns leistet täglich so unendlich viel – ob mit oder ohne Hilfe! Dies sollten wir wertschätzen und unserem inneren Kritiker die Stimme des Zweifelns nehmen.

      Viele Grüße
      Sevi

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