Chronisch krank zu sein bedeutet jeden Tag ein Leben zu führen, in dem Bedürfnisse und Wünsche im Spannungsfeld mit der Realität stehen. Dieser Balanceakt ist unsichtbar, aber für uns Betroffene eine tägliche Herausforderung, die weit über körperliche Symptome hinausgeht.
Ein Wetterumschwung, ein Arzttermin oder ein einfaches Telefonat können alles ins Wanken bringen. Der Körper fordert Ruhe und Rückzug, wobei sich das Herz jedoch nach Leben sehnt, aber parallel dazu uns die Realität ihre Grenzen aufzeigt. In diesem Artikel zeige ich dir, wie ich gelernt habe, diese Gegensätze auszuhalten und warum es sich lohnt, sowohl die eigenen Bedürfnisse ernst zu nehmen als auch Wünsche lebendig zu halten.
Leben mit chronischer Krankheit – ein Spannungsfeld
Warum jede Jahreszeit zur Herausforderung wird
Der Sommer ist für viele Menschen eine Zeit der Leichtigkeit, Freude, Aktivität, des „draußen seins“ und gemeinsamen Spaß haben. Doch für chronisch kranke Menschen stellt der Sommer oft eine ganz besondere Herausforderung dar.
Hitze und wechselnde Temperaturen bringen (m)einen Körper schnell aus dem Gleichgewicht. Die vorhandene und eh schon geringe Kraft und Energie ist noch so viel mehr knapper als sonst.
Im Herbst bringen Wetterumschwünge neue Belastungen, aber dafür mehr Luft zum Durchatmen. Der Winter drückt mit Kälte und Dunkelheit auf die Stimmung, aber schickt den Körper endlich wieder konstant in die ersehnte Ruhe. Und der Frühling weckt nicht nur Lebensfreude, sondern manchmal auch intensive Allergien, Erschöpfung und Sehnsucht nach einem „normalen“ Leben.
Fast jährlich stellen sich mir somit Fragen, die sich je nach Jahreszeit ändern:
- Im Sommer: Kann ich die kommende Hitze(tage) und die Situation „nicht dazu zu gehören„, heute gut aushalten?
- Im Herbst: Wie komme ich mit dem Wetterwechsel klar?
- Im Winter: Wie schütze ich mich vor innerer Kälte, Antriebslosigkeit und eventuellen Depression?
- Im Frühling: Wie gehe ich mit Allergien, der Müdigkeit und der Sehnsucht nach mehr um?
Der tägliche Balanceakt: Planen und Pacen
In den Momenten wird mir klar, dass es Dinge gibt, die ich unbedingt brauche, um stabil durch die jeweiligen Jahreszeiten zu kommen: meine Bedürfnisse. Und es gibt Dinge, die mein Herz höherschlagen lassen, die ich mir aber auch mal gönnen darf, wenn es passt: meine Wünsche. Die Unterscheidung zwischen beidem hilft mir, besser auf mich zu achten und Frust zu vermeiden – egal, ob Sommer, Winter, Frühling oder Herbst.
Das tägliche Abwägen zwischen dem, was unbedingt sein muss, und dem, was mein Leben trotz Krankheit bunt, erfüllt und lebenswert macht, ist ein Balanceakt. Zudem kommt die Realität hinzu. Und die darf ich mit meiner chronischen Erkrankung nicht außer Acht lassen.
Um die Jahreszeiten und meinen Alltag bestmöglich zu leben und gestalten, muss ich viel planen und vor allem noch mehr pacen. Vielleicht kennst du das als Betroffener ja auch? Und falls nicht, tauche ein in meine Gedanken. Lass uns gemeinsam entdecken, wie sich diese drei Welten – Bedürfnisse, Wünsche und Realität – miteinander vereinbaren lassen.
Bedürfnisse = das Fundament für unsere Stabilität
Meine wichtigsten Bedürfnisse im Alltag
Bedürfnisse sind wie das Fundament eines Hauses: Ohne sie bricht alles andere zusammen. Bei mir sind das diese unverzichtbaren Bausteine:
- Regelmäßige medizinische Versorgung: Medikamente, Therapien, Kontrolltermine
- Ruhe & Energiehaushalt: Pausen einplanen und vor allem durchführen, bevor der Körper „Stopp“ sagt
- Seelische Sicherheit: Verständnis von Menschen, die zuhören ohne zu urteilen und an meiner Seite stehen
- Praktische Unterstützung: Hilfe im Alltag, barrierefreie Zugänge, weniger Hürden (auch hinsichtlich der Bürokratie)
- psychische Gesundheit: Immer etwas hinten angestellt, jedoch weiß ich heute, dass mein Körper ohne seelische Stabilität keine Kraft tanken kann.
Bedürfnisse erkennen: Die 3-Fragen-Methode
Manchmal ist nicht sofort klar, ob etwas wirklich ein Bedürfnis ist. Diese drei Fragen helfen dir dabei Klarheit zu finden:
Die 3-Fragen-Methode
1. Was passiert, wenn ich darauf verzichte? Bei chronisch und unsichtbar kranken Menschen: Verschlechterung des Gesundheitszustands und der inneren Stabilität.
2. Ist es zeitkritisch? Bedürfnisse dulden meist keinen Aufschub. Wenn du heute keine Pause machst, zahlst du morgen den Preis.
3. Betrifft es mein körperliches oder seelisches Grundwohlbefinden? Bedürfnisse sind fundamental für unser Funktionieren – nicht „nice to have“, sondern überlebenswichtig.
Praxis-Beispiel: Du fragst dich, ob du zu dem Geburtstag deiner Mutter gehen kannst, bei dem du auf mehrere Personen triffst. ⬇️
Frage 1: Wenn du nicht gehst, bist du morgen nicht erschöpft und kannst den wichtigen Arzttermin wahrnehmen. ⬇️
Frage 2: Die Entscheidung muss jetzt fallen. ⬇️
Frage 3: Mein Körper signalisiert bereits schon ohne die Geburtstagsfeier Erschöpfung und Reizüberflutung.
➡️ Ergebnis: Zuhause bleiben ist heute ein Bedürfnis.
Wünsche als Synonym für die Farben unseres Lebens
Wenn Träume lebendig bleiben
Wünsche sind wie Bilder oder Farbe an den Wänden: Nicht überlebenswichtig, aber sie machen das Leben schöner und bunter.
Vielleicht erkennst du dich in manchen der hier aufgeführen Wünschen wieder:
- Noch einmal in die Berge fahren
- Ein Hobby aus führer Zeiten wieder aufleben lassen, wie z. B. das Fotografieren
- Mehr Unabhängigkeit im Alltag gewinnen
- Endlich von Ärzten und dem persönlichen Umfeld ernst genommen werden
Manche der Wünsche sind groß, vielleicht zu groß, und aktuell nicht erfüllbar. Aber oft lassen sie sich in kleiner Form leben. Wenn ich nicht in die Berge reisen kann, höre ich weißes Rauschen per Audio oder hole mir den Geruch von Wild- bzw. Bergkräutern ins Wohnzimmer. Es ist zwar nicht dasselbe, aber es weckt Erinnerungen an die Ruhe und den Duft der Berge. Und das tut einfach nur gut.
Wünsche „übersetzen“: Vom Großen ins Kleine
Auch wenn krankheitsbedingt das Umsetzen deiner Wünsche in das Jetzt nicht möglich ist, möchte ich dir einige Beispiele zeigen, wie du aus großen Wünschen kleine Meilensteine machst.
Aus „Ich will wieder reisen“ wird:
- Dokumentationen über ferne Orte schauen
- Internationale Küche zu Hause nachkochen
- Virtuelle Museumstouren machen
- Duftöle aus verschiedenen Ländern verwenden
Aus „Ich will wieder unter Menschen“ wird:
- Online-Communities beitreten, die mich verstehen und mit meiner Erkrankung vertraut sind
- Kurze, aber regelmäßige Telefonate mit Freunden
- Gemeinsam einen Film oder Trash-TV schauen (auch per Video-Call)
- Sich Fotos und Videos von Freunden zeigen lassen
Wenn Bedürfnisse, Wünsche und Realität kollidieren
„Du willst doch auch…“ – Wenn andere den Unterschied nicht verstehen
Kennst du diese Sätze? „Du willst doch auch…“ oder „Früher warst du anders…“ Das tut weh und macht das Erklären noch schwerer.
Der Schlüssel liegt darin, konkret zu werden:
- Statt: „Ich bin müde.“ → Sag: „Mein Körper braucht jetzt 2 Stunden Schlaf und Erholung, um neue Kraft zu tanken, das Gewesene zu verarbeiten und später wieder für dich da zu sein.“
- Statt: „Das geht nicht.“ → Sag: „Das übersteigt heute mein Energielevel, stattdessen können wir jedoch [Alternative] machen.“
- Statt: „Ihr versteht das nicht.“ → Sag: „Bei meiner Krankheit ist [konkrete Auswirkung], deshalb brauche ich [konkrete Unterstützung].“
Mein Tipp: Führe an einem guten Tag ein ruhiges „Beispiele-Gespräch“ mit nahestehenden Personen. Erkläre den Unterschied deiner Herausforderungen mit konkreten Beispielen aus deinem Alltag.
Wenn sich Bedürfnisse und Wünsche widersprechen
Das passiert täglich: Du brauchst Ruhe (Bedürfnis), wünschst dir aber Zeit mit der Familie (Wunsch). Oder du brauchst Routine (Bedürfnis), wünschst dir aber Spontanität (Wunsch).
Die Lösung sind Kompromisse, bei denen das Bedürfnis erfüllt bleibt und deine Realität vorausschauend miteinbezogen wird:
- Statt langem Familienausflug: Kurzer, ruhiger Besuch
- Statt irgendwo treffen: Familie kommt zu dir
- Statt aktiver Unternehmung wie spazieren gehen: Gemeinsames Zusammensitzen mit ruhige Aktivität wie Bilder oder einen Film schauen oder einfach nur Kaffee trinken und beisammen sein.
Faustregel: Bedürfnisse haben immer Vorrang. Das heißt aber nicht, dass Wünsche komplett aus deinem Leben verschwinden müssen. Sie können sogar Antreiber sein, wenn du ihnen mit dem nötigen Respekt entgegentrittst und deinen gesundheitlichen Zustand im Fokus hältst.
Zwischen Ruhe und Nähe zu wählen, ist kein Luxusproblem – es ist mein Alltag.“
Die Schuldgefühle-Falle
„Ich sollte DAS doch hinbekommen“ oder „Andere können das auch“. Nickst du gerade innerlich, weil dir dieses Zwiegespräch bekannt vorkommt? Diese Gedanken sind normal, aber sie bringen dich nicht weiter.
Die Wahrheit ist: Dein Körper und deine Situation sind einzigartig. Vergleiche führen nur zu unnötigem Stress.
Hilfreiche Gedanken für solche Momente, sind diese:
- „Ich tue, was in meinen Möglichkeiten steht.“
- „Kleine Schritte sind auch Fortschritte.“
- „Meine Bedürfnisse zu respektieren ist Selbstfürsorge, nicht Schwäche.“
Wenn Wünsche weh tun: Der Umgang mit Trauer und Verlust
Es ist völlig normal und berechtigt:
- über verlorene und entgangene Möglichkeiten traurig zu sein
- Wut zu haben auf die Ungerechtigkeit der Situation
- zu vermissen, wer du „früher“ warst
- Neid auf andere zu empfinden, die scheinbar alles können
Diese Gefühle dürfen da sein. Sie sind Teil des Verarbeitungsprozesses. Gleichzeitig müssen wir lernen, neue Wege zu finden, wie wir mit der Krankheit leben und Freude in unser Leben zurückholen.
Praktische Hilfen im Umgang mit der Trauer um das Verlorene:
- Gib den Gefühlen bewusst Raum (z. B. 15 Minuten „Trauer-Zeit“ am Tag)
- Suche Menschen, die das verstehen und bei denen du dich aussprechen kannst
- Schreibe auf, was du vermisst – und auch, was trotz allem noch möglich ist
- Erlaube dir, sowohl zu trauern als auch Freude zu empfinden
Balance finden: Dein Werkzeugkasten für den Alltag
Es geht bei der Abwägung deiner Bedürfnisse vs. Wünsche und Realität nicht darum, das eine gegen das andere auszutauschen oder gar aus deinem Kopf zu löschen. Nein, jedes davon hat seine Berechtigung. Wir sollten allerdings beides nebeneinander wertschätzen und bewusst Prioritäten setzen. Hier gilt nicht das „Kopf durch die Wand-Prinzip“, das ich selbst so gut kenne, sondern dein Wohlergehen in diesem Moment: Was ist jetzt gerade in diesem Moment für dich richtig? Was hilft dir, den Tag so zu gestalten, dass du gut durchkommst, am Ende des Tages noch nicht alle Reserven oder Löffel aufgebraucht und trotzdem Freude hast?
Missachte bitte nicht deine Bedürfnisse. Du wirst es sonst evtl. später mit dem weiteren Verlauf deiner Gesundheit oder Crash-Tagen bezahlen. Sei dir immer bewusst, was dein Einsatz und die eventuelle Auswirkung ist, um deine Wünsche zu realisieren.
☑ Die tägliche Bestandsaufnahme
Frage dich morgens „Was braucht mein Körper/meine Seele heute wirklich?“ und reflektiere abends „Welche Bedürfnisse habe ich erfüllt? Welcher kleine Wunsch ist aufgegangen?“
☑ Die Zwei-Spalten-Übung
Teile ein Blatt in 2 Spalten – links: „Heute unverzichtbar“, rechts: „Schön wäre, wenn…“ Das schafft Klarheit und nimmt Druck.
☑ Die Wunsch-Übersetzung
Finde für jeden großen, aktuell unerfüllbaren Wunsch 3 kleine Varianten, die ähnliche Gefühle auslösen können.
☑ Der Energie-Check
Bevor du Entscheidungen triffst, fragst du dich: „Habe ich genug Energie für diesen Wunsch, ohne meine Grundbedürfnisse zu gefährden?“
Beispiel aus meinem Alltag: Einer meiner Herzensmenschen lädt mich für den späten Nachmittag spontan zu einem Treffen ein (Wunsch: soziale Verbindung). Energie-Check: Heute Morgen war bereits ein Arzttermin, der mich sehr stresste (Bedürfnis: Erholung, Kraft tanken, Schlaf). Entscheidung: „Danke für deinen Anruf. Das geht heute aber nicht. Wir finden bestimmt einen anderen Termin.“
Bedürfnisse und Wünsche bei chronischer Krankheit: Warum diese Unterscheidung dein Leben verändert
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) definiert Gesundheit nicht nur als Abwesenheit von Krankheit, sondern als Zustand körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens. Das bedeutet für uns: Auch mit chronischer Krankheit ist es möglich Lebensqualität zu steigern und erhalten, wenn wir unsere Bedürfnisse ernst nehmen UND uns Raum für Wünsche erlauben.
Studien bestätigen: Menschen mit chronischen Erkrankungen, die ihre Grundbedürfnisse kennen und erfüllen, während sie bewusst kleine Wünsche pflegen, berichten von höherer Lebenszufriedenheit.
Fazit: Bedürfnisse sind die Basis, Wünsche der Antrieb
Beides gehört zu einem erfüllten Leben, ob mit oder ohne chronische & unsichtbare Krankheit. Wenn wir lernen, beides klar zu sehen und zu leben, schenken wir uns selbst Stabilität und Lebensfreude.
Probiere es jetzt aus und geh die nächsten Schritte:
- Nimm dir 5 Minuten Zeit für die Zwei-Spalten-Übung
- Wähle einen Wunsch und „übersetze“ ihn in 3 kleine, machbare Varianten
- Führe diese Woche ein Gespräch mit einer nahestehenden Person über deine Bedürfnisse
- Gib dir selbst die Erlaubnis, sowohl auf deine Grenzen zu achten als auch zu träumen
📩 Und du? Welche Bedürfnisse stehen für dich gerade an erster Stelle und welche Wünsche geben dir Hoffnung? Vielleicht finden wir durch dein Kommentar gemeinsam Ideen, wie sich manche Wünsche sanft ins Leben holen lassen.
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